Wer sich vom chinesischen Drachen umarmen lässt, sollte gut darauf achten, nicht von ihm erdrückt zu werden. Daimler, der wohl traditionsreichste aller deutschen Großkonzerne, ist mittlerweile nicht nur massiv vom kapitalkommunistischen Riesenmarkt abhängig – wie fast die gesamte Autowelt –, sondern auch hinsichtlich seiner Aktionärsstruktur. Es fehlt, anders als bei BMW und VW, eine Familie als stabiler Ankeraktionär. Derzeit sieht es so aus, dass Tenaciou3 Prospect Investment Limited seit 2018 mit 9,7 Prozent größter Anteilseigner ist, gefolgt von der Investmentholding des Staates Kuwait (6,8 Prozent) und dem nächsten Chinesen, dem ebenfalls aufstrebenden Autokonzern BAIC (5 Prozent); unter den institutionellen Anlegern wäre noch die Superheuschrecke BlackRock (5,18) erwähnenswert.

Edzard Reuter, Vorstandsvorsitzender
der Daimler-Benz AG 1987 bis 1995,
wollte den deutschen Traditionskonzern umbauen. Gedanke und Zielsetzung waren aber seiner Zeit voraus.
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Hinter Tenaciou3 steht der Milliardär Li Shufu, Eigentümer der Volvo-Mutter Geely, und schon hat man, 2020, die 1994 (auch zu dem Behufe, die Flottenverbräuche der Mercedes-Markenwelt abzusenken) gegründete Kleinstwagentochter Smart in ein 50:50-Joint-Venture mit Geely eingebracht. Die Botschaft lautet: Das Design bleibt noch Domäne der Deutschen, gefertigt wird ausschließlich in Fernost. Eine elektrische Fahrzeugarchitektur ist in Entwicklung, wie 2022 das vermutlich erste Fahrzeug darauf aussehen wird, deutet die kürzlich auf der IAA vorgestellte Klein-SUV-Studie Concept #1 an. Eine andere Übereinkunft betrifft Verbrennungsmotoren. Unterhalb der eigenen Motorenfamilien entwickelt Mercedes kleinere Aggregate, die dann bei Geely in China gebaut werden – vorher war dafür Partner Renault zuständig.

So. Und jetzt der andere Hammer. Quasi nebenher fand heuer die von Aktionären längst geforderte Trennung der Pkw- und Nutzfahrzeugsparte statt. Daimler, ewig schon größter Nutzfahrzeughersteller der Welt, hat diese Abteilung an die Börse gebracht und benennt die auch gleich englisch: Daimler Trucks & Buses. Aus Ansicht etlicher Firmenkenner ein echtes Sakrileg, war doch die gesamte Firmenhistorie über die Konzernstruktur – hie Automobile, da Lastwagen und Busse – eine untrennbare Kombination.

Jetzt ist es natürlich schon so, dass Daimler immer noch als technologische Supermacht wahrgenommen wird und dies auch ist, kaum wer macht denen in dem Kapitel groß was vor, wenn auch manches vielleicht flotter vonstattengehen könnte. Aber die Gefahr, von finanzstarken Investoren geschluckt zu werden, wird eben auch immer größer.

Neuausrichtung allerseits

Und das gerade zu einer Zeit, in der etliche Konzerne im Zuge der auf Hochtouren laufenden Mobilitätswende ihre Neuausrichtung für die nächsten Dekaden publiziert haben. Überall spielt der Dienstleistungssektor eine Rolle, Carsharing in diversen Ausformungen, das hochkomplexe Megathema autonomes Fahren, gerne ist auch eine Komponente dabei, die in die dritte Dimension weist, sprich: Flugdrohnen zum Passagierdienst, und elektrisch ist das alles sowieso an- und ausgelegt. Man stellt sich also darauf ein, sich zu umfassenden Mobilitätsanbietern zu transformieren.

Da könnte Daimler schon längst stehen oder gar noch weiter sein als die Konkurrenz. Wie denn, was denn, werden Sie sich vielleicht fragen, sind die beim STANDARD irgendwo heftig dagegengelaufen? Nein, sind wir nicht. Es geht um den Reuter. "Nimm di nicks vör, denn sleiht di nicks fehl!" – frei übertragen: Nimm dir nichts vor, dann kannst du auch keine Fehler machen –, hat Fritz Reuter einmal gesagt. Der Spruch passt als Warnung gut hierher, jener, der ihn tat, hat aber mit dem konkret gemeinten Reuter, dem Edzard, nur den Familiennamen gemein.

Edzard Reuter, geboren 1928, Sohn des sozialdemokratischen (West-)Berliner Nachkriegsbürgermeisters Ernst Reuter, war 1987 bis 1995 Vorstandsvorsitzender von Daimler-Benz. Der Mann hatte einen Traum, den vom integrierten Technologiekonzern. Und wie auch immer man dazu steht: Schade, dass diese aufregende, ganz, ganz groß gedachte Vision keine Chance auf Realisierung bekam.

Sein Nachfolger Jürgen Schrempp riss nach Amtsantritt 1995 sogleich das Ruder herum, verkündete die Hauptbotschaft an die Welt des Kapitals "Shareholder, shareholder, shareholder" ("Aktionär" brachte er schon gar nicht mehr über die Lippen), verscherbelte umgehend das Tafelsilber, und was er nicht losgeschlagen hatte, vollendete Dieter Zetsche.

Von Konzentration aufs Kerngeschäft war dann die Rede, nur noch Pkw und Lkw also, man arrangierte eine "Hochzeit im Himmel" mit dem maroden US-Hersteller Chrysler – Sie erinnern sich: DaimlerChrysler –, überhob sich fast dabei, und die unzähligen in dieses Experiment versenkten Milliarden hätte man gut und gerne auch in Reuters Plan stecken können. Zusätzlich. Denn dessen Konzernumbau, und das war ja der Hauptgrund des Scheiterns seiner Pläne, erbrachte Verluste von rund 36 Milliarden DM (18 Mrd. Euro).

Alles unterm guten Stern

Ausgehend von Pkw, Lkw und Bussen hatte Reuter auch Luft- und Raumfahrt, Schiene, Elektrik/Elektronik, Software, IT-Dienstleistung und Rüstung im Sinne, alles mehr oder weniger unter dem Dache der damaligen Daimler-Benz AG, alles sozusagen unterm guten Stern. Manches gehörte schon länger zum Laden, anderes wurde sukzessive zugekauft.

Eine wackelige Angelegenheit war von vornherein die Tochter Debis Systemhaus, in dem 1990 die Konzernrechenzentren und Systemdienstleister ausgelagert wurden. Wurde Ende 2000 an die Deutsche Telekom verkauft.

Das Engagement im Bahnbereich stand auf deutlich solideren Füßen, in der Adtranz wurden die Bahntechnikfirmen von ABB und Daimler-Benz gebündelt, darunter auch die seit 1985 zu Daimler-Benz zählende Schienenfahrzeugsparte von AEG. 2001 wurde der Laden an Bombardier verhökert, kleiner Österreich-Aspekt am Rande: 1970 hatten die Kanadier den heimischen Straßenbahnbauer Lohner-Werke übernommen.

AEG ist überhaupt ein gutes Stichwort. 1994 experimentierte Daimler im Kleinbus MB 100 bereits mit E-Antrieb, die elektrischen Komponenten stammten von AEG. Hätten die das klug und konsequent weitergetrieben, müssten die E-Mobile von Mercedes jetzt nicht ein verkrampftes, englisch ausgesprochenes EQ vor sich hertragen, die Submarke hieße vielleicht Mercedes-AEG und die Topversionen trügen womöglich den Zusatz "Walter Rathenau"-Edition, Führungsrolle bei Elektro inklusive. Könnte, hätte, wäre ...

Am ambitioniertesten, leider auch am grandiosesten gescheitert waren die Pläne in Luft-, Raumfahrt und Rüstung. Zur Daimler-Tochter DASA zählten: Triebwerkshersteller MTU, Messerschmitt-Bölkow-Blohm, Dornier (80-Sitzer Do 728 war fast fertig) sowie eine Beteiligung an Fokker. Das gesamte deutsche Airbus-Engagement wurde aus dieser Konzernecke betrieben, bekanntestes "Produkt" im All war das bemannte ESA-Raumlabor Columbus.

Der große Wurf blieb flügellahm, was aus Reuters Vision hätte werden können, werden wir nie erfahren. Wenn die nur bloß nicht bald einmal als Beute des Drachen abheben ... (Andreas Stockinger, 10.10.2021)