Verloren im überdimensionierten Rippenbogen: Thomas Manns Jahrhundertroman "Der Zauberberg" wird in St. Pölten auf die Bühne gebracht.

Foto: Alexi Pelekanos

Wie holt man Thomas Manns Zauberberg, dieses in jeder Hinsicht enorme Meisterwerk, aus einsamen, kalten Gefilden auf eine Theaterbühne herab – noch dazu in bekömmlicher Länge von nur einer Stunde und vierzig Minuten? Sara Ostertags Inszenierung am Landestheater Niederösterreich liefert dazu einen mehr als gültigen Vorschlag.

Die eisigen Höhen des Davoser Sanatoriums, in dem Manns Pseudo-Bildungsroman rund um den jungen Hans Castorp spielt, der sich irgendwo zwischen Todestrieb und Verlangen, scharfem Intellekt und schwammiger Esoterik mehr verliert als findet, verlegt sie ins Innere – und zwar buchstäblich: Über die Bühne (Nanna Neudeck) wölbt sich spinnenartig ein Rippenbogen.

In der Mitte windet sich eine Wirbelsäule nach vorne, die den Spielerinnen und Spielern immer wieder auch als Versteck und zum Hindurchkrabbeln dient. Hier landet also, noch ganz grün hinter den Ohren, Castorp an, den Tilman Rose spielt, als sei die Figur für ihn geschrieben: ein Junge ohne Eigenschaften, immer interessiert und höflich bis zur Selbstverleugnung, seinem eigenen Begehren, seinen Bedürfnissen fremd, der sich treiben lässt bis in den Untergang. Denn damit, in Form des Ersten Weltkrieges, endet der Roman bekanntlich. Empfangen wird Castorp, der als Urlauber kommt, von seinem Vetter Joachim Ziemßen: einem Preußen, Militär natürlich, der vor Verklemmtheit und Pflichterfüllung kaum laufen kann. Wie Jeanne Werner das spielt, ist ein Genuss.

Grandioses Ensemble

Binnen kürzester Zeit wird Hofrat Behrens, geschäftstüchtiger Klinikleiter, Castorp davon überzeugen, dass es doch auch ihm nicht schaden würde, ein bisschen mitzukuren. Michael Scherff spielt diesen Behrens schön hemdsärmelig, als manipulativen Krankheitsvertreter im Schlächterkittel (Kostüme: Clio Van Aerde). Überhaupt lebt dieser Abend von seinem grandiosen Ensemble: Laura Laufenberg gibt, in gebeugter Haltung, den etwas zwielichtigen Analytiker Dr. Krokowski und, aufrecht, die reichlich gestörte Frau Stöhr, deren Lied über die 28 Fischsoßen, die sie beherrscht, einem nicht mehr aus dem Ohr geht. Denn der Abend hat, wie so oft bei Ostertag, auch eine musikalische Ebene – hier ist die großartige Clara Luzia gemeinsam mit Catharina Priemer-Humpel für die Musik verantwortlich, die beiden sind auch mit auf der Bühne. Bettina Kerl spielt, wunderbar souverän und scharfzüngig, Settembrini und daneben Adriatica von Mylendonk, den unheimlichen Zwilling von Schwester Christa. Und schließlich ist da noch die geheimnisvolle Clawdia Chauchat, die Ostertag mit Tim Breyvogel besetzt.

Haariges Wesen

Ostertag gelingt mit ihrem Ensemble und ein paar schönen Regieeinfällen ein Abend, der die seltsam schläfrige, dekadente Stimmung am Zauberberg, auf dem die Zeit eingefroren zu sein scheint, auf die Bühne bringt, ohne dabei einzulullen oder zu langweilen. Auch hier arbeitet Ostertag nicht nur mit Musik, sondern mit Farben und Choreografie (Steffi Wieser) und schafft es so, dem Roman tatsächlich etwas hinzuzufügen, ihm andere, sinnliche Ebenen zu geben: So wird Castorp über den Verlauf des Abends immer mehr mit Farben besudelt, was anschaulich macht, wie der vermeintlich gesunde, junge Mann langsam der Welt des Zauberbergs verfällt. Dass hier etwas umgeht, das die Menschen in seiner Macht hat, zeigt Ostertag nicht nur in den vielen Traumszenen, sondern auch durch ein haariges Wesen, das die Figuren immer wieder willenlos und schläfrig zu machen scheint.

Vieles, das den Roman ausmacht, muss freilich untergehen an so einem Abend, namentlich sind das hier Mynheer Peeperkorn, der in der Inszenierung kaum erkennbar ist, und Settembrinis Gegenspieler Naphta (Tim Breyvogel), der kein Profil gewinnt. Aber das sind verschmerzbare und wohl auch nötige Abstriche, die nichts daran ändern, dass Ostertag hier eine tatsächlich bezaubernde Inszenierung gelungen ist. (Andrea Heinz, 5.10.2021)