Die Abschaffung der kalten Progression ist in der am Sonntag präsentierten Steuerreform kein Thema.

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Die Forderung nach der Abschaffung der kalten Progression ist ein Dauerbrenner in österreichischen Regierungsprogrammen. Umgesetzt wurde sie bisher allerdings nicht – und das wird sich wohl auch in Zukunft nicht so schnell ändern. Denn die schleichende Steuererhöhung verschafft der Politik Spielraum für gezielte Entlastungen. Betroffen von der kalten Progression ist die Einkommenssteuer, die in Österreich progressiv ausgestaltet ist.

Frage: Wie funktionieren progressive Steuern?

Antwort: Wer mehr verdient, unterliegt höheren Steuersätzen. Ein Jahreseinkommen bis 11.000 Euro ist in Österreich steuerfrei. Für Einkommensbestandteile zwischen 11.000 und 18.000 Euro fallen 20 Prozent Steuer an. Von 18.000 bis 31.000 Euro sind es künftig 30 Prozent, von 31.000 bis 60.000 Euro künftig 40 Prozent. Ein Steuerzahler, der jährlich 30.000 Euro verdient, fällt also in drei verschiedene Stufen. Für 11.000 Euro seines Jahresgehalts bezahlt er keine Steuern. Für 7.000 Euro werden 20 Prozent fällig, für die restlichen 12.000 Euro 30 Prozent.

Frage: Was ist die kalte Progression?

Antwort: Steigt durch laufende Gehaltserhöhungen oder Inflationsanpassungen der jährliche Bezug, rutschen Teile des Einkommens automatisch in eine höhere Steuerstufe. Die Last wird also insgesamt größer – auch dann, wenn die Reallöhne nicht steigen, sondern sich die Gehälter nur an die Inflation angleichen. Verhindern ließe sich das, indem auch die Steuerstufen an die Inflationsrate angepasst werden. Die Stufen müssten also regelmäßig nach oben korrigiert werden.

Frage: Wie viel Mehreinnahmen hat der Staat durch die kalte Progression?

Antwort: Laut dem Forschungsinstitut Eco Austria würde die kalte Progression ohne Steuerreform zwischen 2019 und 2025 zu einer zusätzlichen Steuerbelastung von insgesamt 19,5 Milliarden Euro führen. Genaue Prognosen sind aber praktisch nicht möglich. "Die Zahlen sind immer davon abhängig, wie hoch die Inflation ausfällt und wie sich die nominellen Löhne entwickeln", sagt Institutsdirektorin Monika Köppl-Turyna zum STANDARD. Die Inflation werde heuer und nächstes Jahr wohl höher ausfallen als in der Berechnung angenommen. Auch die Löhne dürften entsprechend angepasst werden.

Frage: Was bedeutet das für den einzelnen Steuerzahler?

Antwort: Welche Auswirkungen die kalte Progression für den einzelnen Steuerzahler hat, hat im Sommer die wirtschaftsliberale Agenda Austria berechnet. Damals ging das Institut aber davon aus, dass die Reform mit Anfang 2022 in Kraft tritt und nicht erst im Juli 2022 bzw. im Juli 2023. Die Zahlen dürften sich also noch leicht ändern. Nach der damaligen Berechnung würden Niedrigverdiener von der aktuellen Steuerreform wenig bis gar nicht profitieren. Für Menschen mit einem monatlichen Einkommen von 2.000 Euro brutto würde die kalte Progression im Jahr 2022 trotz Steuersenkungen zu einer Mehrbelastung von rund 200 Euro führen. Erst ab einem Einkommen von 2.500 Euro brutto komme es zu einer jährlichen Entlastung von 117 Euro, ab 3.000 Euro wären es 360 Euro.

Frage: Warum wird die kalte Progression nicht abgeschafft?

Antwort: Praktisch alle Parlamentsparteien und politischen Akteure forderten in der Vergangenheit die Abschaffung der kalten Progression. Steuerreformen und Entlastungspakete lassen sich politisch aber besser verkaufen. Fakt ist: Mit Steuerreformen gibt der Staat oft nur zurück, was er durch die kalte Progression zusätzlich eingenommen hat.

Dazu kommt noch ein weiteres politisches Argument: Der Lenkungseffekt sei durch gezielte Steuerreformen größer als durch eine automatische Inflationsanpassung, erklärt Herbert Kovar, Steuerexperte bei Deloitte Österreich, im STANDARD-Gespräch. "Die Einnahmen durch die kalte Progression bieten der Politik immer einen Spielraum, Lenkungsmaßnahmen zu setzen." (Jakob Pflügl, 4.10.2021)