"Nine" heißt das fünfte Album der britischen Band Sault – mit Infos zu den handelten Personen geizt man aus Prinzip.

Die Stimmung kippt schnell. Heißt der Opener noch schlicht Haha und entspricht der Titelgebung mit Gelächter, geht es nach einer Minute direkt in den ersten richtigen Song und damit gewissermaßen in den Straßenkampf. London Gangs heißt der und wird von einer grimmigen Bassline und tribalistischen Rhythmen angeschoben. Damit ist Nine angekommen. Nine heißt das fünfte Album der britischen Band Sault seit ihrem Auftauchen 2019. In der Zeit hat sie mit ihrem Output für Furore gesorgt, Nine, das nun physisch vorliegt, wird diesen Ruf weiter festigen.

Über Sault ist wenig bekannt, sie gilt als anonyme Band. Die Behauptung hält zwar nicht, schließlich wird ein gewisser Dean Wynton Josiah Cover als Mastermind genannt. Wobei: Gesichert ist das nicht, selbst britische Medien verwenden den Namen mit Fragezeichen versehen. Schließlich deutet der Nachname "Cover" darauf hin, dass es sich dabei bloß um einen gestreuten Decknamen handeln könnte. Aber verwenden wir ihn einmal mangels gesicherter Information.

Daft Punk und Kiss

Des Weiteren taucht dieser Dean Wynton Josiah Cover mit dem Nom de Guerre "Inflo" als Produzent für den britischen Soulstar Michael Kiwanuka auf. Den vom Wesen her eher zurückhaltenden Kiwanuka soll er dazu überredet haben, sich in seinen Musikvideos selbst zu zeigen, das würde sein Publikum besser an ihn binden, empfahl ausgerechnet er. Das alles weist darauf hin, dass Sault ein strategisches Spiel mit ihrer relativen Anonymität treibt. Neu ist das nicht, aber es wirkt.

The Shuffler

Es gab und gibt eine Reihe von Bands, die ihre Identität mehr oder weniger geheim halten – von Daft Punk zu The Residents, von den pösen Purchen Slipknot zu den Perchtenmetallern Lordi, von den nur wenig getarnten Gorillaz zum Rapper MF Doom oder der in Splatterkostümen auftretenden Heavy-Combo Gwar. Auch Kiss muss man nennen. Und dass der die Gorillaz mitbetreibende Damon Albarn immer wieder verdächtigt wird, möglicherweise hinter Sault zu stecken.

Heimlichtuerei

Die Gründe für so eine Heimlichtuerei sind mannigfaltig. Vom kindlichen Spaß an der Freude über das inszenierte Image als Gesamtkunstwerk bis zu der Haltung, dass die Botschaft der Kunst wichtiger ist als die Egos und Gesichter der ausführenden Kräfte.

kuptun

Sault darf man letztgenannter Kategorie zurechnen. Dem Herrn Cover scheint es hinter den Kulissen zu gefallen, er werkt dort als Produzent und zeichnet als Multiinstrumentalist für den Sound verantwortlich. Konstante Mitstreiterinnen sind Cleopatra Nikolic, die als Cleo Sol bislang zwei weniger aufregende Soloalben veröffentlicht hat, sowie die Rapperin Little Simz. Deren letzte beide Alben hat Cover als "Inflo" ebenfalls produziert.

Keine Konservenmusik

Die Message von Sault steht in der Tradition schwarzer Musik mit sozialen Anliegen, wie sie mit der US-Bürgerrechtsbewegung in Mode und in die Charts kam und über politischen Funk und Conscious-Rap längst eine eigene Musikrichtung in wechselnden Stilen geworden ist. Sault würzt den ihren mit Versatzstücken des Afro-Beat und einer zeitgenössischen Ästhetik, die, wie üblich, schwer auf Bass setzt. Doch es ist keine Konservenmusik, sondern organisch und berichtet aus der Underdog-Perspektive.

SWL 2TON

Sault tauchte auf dem Siedepunkt der Black-Lives-Matter-Bewegung auf. Ihre allesamt in Schwarz gehaltenen Cover-Artworks untermalen das ebenso wie die sich daraus abhebenden Sujets – etwa die graue Faust, die den Gruß der Black Panther auf dem Album Untitled (Black Is) in Erinnerung ruft. Nine, das als fünftes Album sogar in der Chronologie Fallstricke spannt, ist eine konsequente Fortsetzung des eingeschlagenen Wegs.

Ghetto-Stars

Stark zuckende Funkstücke folgen auf introvertierte Betrachtungen. Diese Balladen wiederum zitieren schwarze Musik aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Cleo Sol gibt sich in dem klassisch angelegten Schleicher Alcohol ein wenig moralinsauer, Trap Life ist ein Funk-Stück zum Thema Messerstecherei – alles sehr im harten Alltag verwurzelte Themen: "Hello, hello, I’m a ghetto star", singt jemand. Und die Freude darüber besitzt einen bitteren Beigeschmack.

Doch das macht die Qualität von Sault mit aus: die Kreuzung sinistrer Themen mit euphorisierender Musik. Hedonismus unterm Fallbeil. Happy Hour in der Endzeit. Und den Ruhm dafür anonym genießen. Die Tarnung fliegt vielleicht demnächst schon auf, doch selbst ohne ihre mysteriöse Aura würde Sault zu den zurzeit spannendsten musikalischen Projekten da draußen zählen. (Karl Fluch, 6.10.2021)