Die Zukunft der türkis-grünen Koalition scheint angesichts der Causa rund um den Aufstieg von Kanzler Kurz (ÖVP, rechts) ungewiss.

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Dass es Mittwochfrüh in den Reihen der ÖVP zu Hausdurchsuchungen kam, traf nicht nur die Kanzlerpartei ins Mark. Auch der grüne Koalitionspartner wirkte im ersten Moment ratlos. Manche Abgeordnete waren nicht erreichbar, andere sehr zögerlich in ihrer Analyse, wie es angesichts der Vorwürfe hinsichtlich Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit gegen Kanzler Sebastian Kurz und Co mit dem türkis-grünen Bündnis weitergehen soll.

Kogler spricht von "verheerendem" Bild

Vizekanzler Werner Kogler erklärte im Gespräch mit dem STANDARD am Mittwochnachmittag schließlich, dass er sich in der kurzen Zeit seit Bekanntwerden der Vorgänge noch keinen vollständigen Überblick habe verschaffen können. Der Chef der Grünen hält fest: "Der erste Eindruck ist verheerend – sofern er sich bewahrheitet." Für ihn sei nun das Wichtigste, sicherzustellen, dass die Justiz in Ruhe ermitteln und arbeiten könne. Konkrete Kritik an einzelnen Maßnahmen der Justiz sei zulässig, sagt Kogler: "Pauschale Angriffe auf Staatsanwälte oder Richter aber sind ein völliges No-Go."

ÖVP-Klubchef August Wöginger hatte die Ermittlungen der Justiz am Vormittag als politisch motivierte "Show" bezeichnet. Dieser Vorwurf geht für Kogler ins Leere und sei entschieden zurückzuweisen. Hausdurchsuchungen werden von Staatsanwaltschaften sorgfältig vorbereitet und brauchen eine richterliche Genehmigung. Fühle sich die ÖVP ungerecht behandelt, solle sie sich "gefälligst an den Rechtsstaat wenden, statt diesen zu bekämpfen", sagt er. Es gebe schließlich Rechtsmittel, um die Anordnung einer Hausdurchsuchung überprüfen zu lassen.

Nachricht schlug bei Grünen ein

Einen raschen Rücktritt des Regierungschefs erwartete bei den Grünen zuerst niemand. So etwas werde erst spruchreif, sollte es in der Causa tatsächlich zu einer Anklage kommen. Als die Hausdurchsuchungsanordnung samt inkriminierenden Chats der türkisen Riege über den Vormittag langsam beim Juniorpartner eintrudelte, änderten sich aber die Einschätzungen. Als bemerkenswert empfindet man dort vor allem die breite Dokumentation, die die Ermittler in diesem Fall vorlegen konnten. Gefühlt sei es mehr als das, was bei Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) im Zuge der Causa Casinos zur Hausdurchsuchung geführt habe. Und es machten bereits Gerüchte die Runde, dass das noch gar nicht alles sei.

Das sagen Grüne hinter vorgehaltener Hand. In offiziellen Stellungnahmen zog man die rhetorische Handbremse. So betonte Klubchefin Sigrid Maurer bloß: "Wir haben vollstes Vertrauen in die Justiz, die macht ihre Arbeit ohne Ansehen der Person, und wir werden sehen, wie es weitergeht."

Kurz spricht von konstruierten Vorwürfen

Bundeskanzler Sebastian Kurz selbst ließ mit einer Reaktion bis zum frühen Abend warten. Im Gespräch mit der Kleinen Zeitung zeigte er sich dann allerdings überzeugt davon, dass sich die Vorwürfe gegen ihn als falsch herausstellen werden. Es würden SMS-Fetzen auseinandergerissen, in einen falschen Kontext gestellt und drumherum "strafrechtliche Vorwürfe konstruiert", wird der Bundeskanzler zitiert.

Bundeskanzler Sebastian Kurz und seinen engsten Vertrauten wird Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit vorgeworfen. Wir haben die wichtigsten Infos in unter drei Minuten zusammengefasst.
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Opposition fordert Rücktritt

Die Opposition war in den Reaktionen auf die und in den Forderungen nach den Razzien naturgemäß deutlicher und schärfer. SPÖ, FPÖ und Neos beantragten gemeinsam eine Sondersitzung zur Causa, und zwar "so rasch wie möglich", wie es in einer gemeinsamen Aussendung hieß.

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner erklärte: "In einer Zeit, in der Österreich Stabilität braucht, ist Bundeskanzler Sebastian Kurz Hauptbeschuldigter wegen Korruptionsverdacht und das Bundeskanzleramt erstmals in seiner Geschichte Ziel einer gerichtlich angeordneten Hausdurchsuchung." Ihre Conclusio: "Wenn man politische Verantwortung ernst nimmt und wenn man einen Funken Anstand besitzt, dann müsste der Kanzler in dieser Situation Konsequenzen ziehen und sein Amt niederlegen." Zumindest müsse Kurz in der Sondersitzung des Parlaments nun Rede und Antwort stehen: "Der Verdacht wiegt schwer. Wir alle werden Zeugen des moralischen Verfalls der ÖVP – einer einst staatstragenden Partei."

Kritik am Bundespräsidenten

Für FPÖ-Chef Herbert Kickl ist der Rücktritt des Bundeskanzlers angesichts der aktuellen Entwicklungen "unausweichlich". "Sollte Sebastian Kurz bis zum Termin der Sondersitzung nicht von sich aus die einzig vor stellbare Konsequenz ziehen, werden wir mit einem Misstrauensantrag nachhelfen", drohte Kickl.

Der Fraktionsführer der FPÖ im Ibiza-Untersuchungsausschuss Christian Hafenecker fordert als Reaktion auf die Hausdurchsuchungen neuerlich die Einsetzung eines neuen Untersuchungsausschusses. "Wir haben immer gesagt, dass das Abdrehen viel zu früh war", sagt Hafenecker. Der Untersuchungszeitraum des Ibiza-Ausschusses habe auch gar nicht die Periode umfasst, um die es bei den am Mittwoch durchgeführten Durchsuchungen offenbar geht, nämlich die Zeit vor der Bildung der türkis-blauen Regierung. "Das, was unter dem ‚Projekt Ballhausplatz‘ verstanden wird, muss man sich viel genauer anschauen", so der FPÖ-Abgeordnete.

Neos wollen Misstrauensantrag

Die Bedeutung des "Projekts Ballhausplatz" – also der geheimen Vorbereitungen innerhalb der ÖVP für einen Wechsel von Parteichef Reinhold Mitterlehner zu Sebastian Kurz – betonte auch Neos-Generalsekretär Douglas Hoyos. "Spätestens seither häufen sich die Verdachtsfälle rund um illegale Parteienfinanzierung, Stimmenkauf durch Inserate und Postenschacher. Der türkisen Partie geht es nur um eines: Macht." Hoyos fordert die ÖVP nun zu vollster Kooperation mit den Ermittlern auf.

In diesem Zusammenhang nimmt der Neos-Abgeordnete aber auch Justizministerin Alma Zadić (Grüne) in die Pflicht: "Während die ÖVP seit Wochen systematisch die unabhängige Justiz mit haltlosen Vorwürfen beschießt, schaut die grüne Ministerin wort- und tatenlos zu. Sie müsste gerade jetzt die Justiz vor den türkisen Angriffen schützen." Die Neos-Parteichefin forderte ebenso den Rücktritt des Bundeskanzlers und lud alle Parteien ein, Gespräche zu einem "neuen Österreich" zu führen. Sie erwarte, dass Kurz zurücktrete. Andernfalls werde man einen Misstrauensantrag einbringen, sagte Meinl-Reisinger. (Lara Hagen, Gerald John, Jan Marchart, Katharina Mittelstaedt, Michael Völker, Gabriele Scherndl, 6.10.2021)