Mit ihrem Debüt stand Sasha Marianna Salzmann 2017 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, mit ihrem zweiten Roman schaffte es die derzeit in Berlin lebende Autorin heuer auf die Longlist.

Foto: Heike Steinweg

Sasha Marianna Salzmann ist in Deutschland gerade die heiße Aktie der Literatur. Nicht nur wird allerorten ihr neuer Roman besprochen, sondern fast lieber noch die sich als nichtbinär definierende Autorin mit Migrationshintergrund aus der Sowjetunion selbst porträtiert. Um Zuwanderung (zentral) und Queerness (eher am Rande) geht es in Im Menschen muss alles herrlich sein.

Im Zentrum stehen zwei Mutter- Tochter-Paare, deren Geschichte in den 1970ern in der sowjetischen Ukraine mit Lena beginnt. Ein Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen, das Schwierigkeiten mit der strengen, kühlen Mutter hat, aber seinen Vater dafür umso heißer liebt. Ebenso die Sommer bei der Großmutter am Schwarzen Meer, wo sie in deren kleinem Garten Haselnüsse ernten, um sie am Markt zu verkaufen. Auf ihrer Fahrt dorthin registriert Lena die reicheren Urlauber in Sotschi, macht sich aber noch wenig Reim darauf. In den 1990ern, nach der Perestroika, wird sie als Ärztin für die Geschlechtskrankheiten von "Businessmännern" und deren Geliebten selbst zu den im Sozialismus Bessergestellten gehören.

Theater als Anker

Salzmann hat für ihren Roman viel recherchiert, viele Gespräche geführt. 1985 in Wolgograd geboren, kam sie nämlich mit zehn Jahren als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Es rumpelt gehörig in der jungen Biografie: Mit der Schule klappt es nicht, und sie fängt von Wut getrieben an zu boxen, den Schulabschluss schaffte sie erst beim dritten Anlauf. Dann wird es ruhiger: Weil sie Bücher liebt, studiert sie Literatur, Theater und Schreiben, gründet das Kultur- und Gesellschaftsmagazin Freitext, erarbeitet Inszenierungen und Stücke (Muttersprache Mameloschn), die Preise trudeln ein.

Seit 2013 ist sie Hausautorin am Gorki in Berlin, das sich in den vergangenen Jahren als Kaderschmiede für migrantische, postkoloniale und Genderthemen etabliert hat, ein paar Jahre leitete sie zudem dessen Studiobühne, wird zur "Theaterautorin der Stunde" ausgerufen, bis ihr das Theater keinen Spaß mehr macht. Ihr erster Roman Außer sich von 2017 über eine zerrissene migrantische Familie und die Frage nach sexueller Identität, eingespannt in ein politisches Koordinatensystem und sinnlich beschriebenes Istanbuler Lokalkolorit, hat bereits viel mit dem aktuellen gemein.

Anstehen um Fleisch und Butter

In Im Menschen muss alles herrlich sein nimmt die 36-jährige Autorin mit in elitäre Ferienlager der kommunistischen Partei, wo die Kinder noch mehr indoktriniert werden als in der Schule, wo Lena aber auch zarte lesbische Gefühle entwickelt. Salzmann erzählt von stundenlangem Anstehen vor Läden um Fleisch und Butter; Ärzten, die gegen Geld- und Sachgeschenke behandeln; groben Männern; einem Studium, das sogar Lena als Jahrgangsbeste nur dank einflussreicher Kontakte gewährt wird. Wenn nichts von der Leistung, die einer selbst bringt, abhängt – woran soll man glauben?

Salzmann zeigt ein marodes System, das sich auf individueller Ebene in Sinnkrisen niederschlägt. Oder um es mit den Worten von Nina zu sagen, die als Tochter einer Ukrainerin und eines Deutschen in Berlin geboren worden ist und wie ihre Mutter Tatjana erst ab der Hälfte des Buches auftritt: "Ich habe Monate damit verbracht, nachzulesen, welche Erschütterung das gewesen sein muss. Das Einzige, was feststeht, ist, dass es immer noch Nachbeben gibt. Und bei denen, die es am eigenen Leib erfahren haben, wackeln immer noch die Eingeweide." Die Passage ist ein Schlüssel zum Roman: Er will der Historie nachspüren, um Gegenwart zu begreifen.

Eigene Schwierigkeiten

Denn auch Salzmann hatte früher Schwierigkeiten, die Eltern nach der Herkunft zu fragen. Neue Zitate, zu den Erfahrungen passendere als jene von "vor Hunderten von Jahren gestorbenen" Schriftstellern, in denen die Emigrierten miteinander reden, sollen dieser Sprachlosigkeit Abhilfe schaffen. "Bei uns brennt doch alles!", sagt etwa Daniel, den Lena schließlich heiratet und mit dem sie nach Deutschland geht.

Hier spielt die zweite Hälfte des bisher sehr klar und klassisch erzählten Romans. Er wird wegen häufig wechselnder Erzählperspektiven experimenteller und unübersichtlicher. Im Mittelpunkt steht nun Lenas Tochter Edi, die den Kontakt zu ihren nach wie vor in der russischen Community verhafteten Eltern meidet und planlos in Berlin lebt. Sie ist verliebt in Leeza, die einen "Flaum" auf der Oberlippe trägt und Volontärin bei einer Zeitung ist, wo sie ihre Kollegen immer wieder dazu auffordern, ihre ukrainischen Wurzeln zu ihrem "unique selling point" zu machen. Mit solchen Schlagworten reißt Salzmann identitätspolitische Diskurse an. Insgesamt wird die Stoßrichtung nun allerdings unklarer; mit Tatjana und Nina wird das plastische Zeit- und Biografienpanorama zwar breiter, franst der Plot jedoch aus.

So sinnlich detailreich Salzmann die Sowjetunion einerseits beschreibt, bleibt die Kluft zwischen den Generationen, die ihre (fehlenden) Erfahrungen trennen, andererseits gefühlt etwas zu theoretisch. (Michael Wurmitzer, 7.10.2021)