"Die wissenschaftliche Expertise der medizinischen Vortragenden ist fragwürdig", sagt der Leiter des Zentrums für Physiologie und Pharmakologie an der Medizinischen Universität Wien, Michael Freissmuth, im Gastkommentar. Einer der Vortragenden, der Grazer Gesundheitswissenschafter Martin Sprenger, verwehrt sich gegen die Bezeichnung "Verharmloser und Relativerer" und betont, dass gerade die Universität vom Diskurs lebe.

"Corona – eine transdisziplinäre Herausforderung": Unter diesem Titel findet eine Ringvorlesung statt. Die Vortragendenliste sorgt für viel Kritik.
Foto: Christian Fischer

Wie wäre es mit Selbstbescheidung?

Von Michael Freissmuth

Die angekündigte Ringvorlesung "Corona – eine transdisziplinäre Herausforderung" an der Universität Wien erzeugt den wahrscheinlich beabsichtigten Wirbel. Es werden in diesem Zusammenhang die typischen Reizworte "ganzheitliche Medizin" beziehungsweise "Ganzheitsmedizin" und "Transdisziplinarität" verwendet und die sogenannte Freiheit der Wissenschaft bemüht.

Die Proponenten wehren sich auch dagegen, ins rechte Eck gestellt zu werden. Allerdings muss man sich schon daran erinnern, dass "ganzheitliche Medizin" und "Ganzheitsmedizin" genau aus diesem Eck stammen. Kostproben: Der Reichsärzteführer Karl Kötschau hatte als Prodekan der Medizinischen Fakultät der Universität Jena das erklärte Ziel, "Jena zur Kampfuniversität für ganzheitliches Denken" zu machen. Werner Zabel (Augenarzt und Diätberater von Hitlers Leibarzt Theo Morell) veranstalte ab 1949 Kurse in Ganzheitsmedizin, um die mittlerweile in Verruf geratene "Neue Deutsche Heilkunde" unter einem anderen Namen zu verbreiten.

"Transdisziplinarität" klingt auch gut; sie wird als ein "Forschungs- oder Wissenschaftsprinzip verstanden, das überall dort wirksam wird, wo eine alleine fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist beziehungsweise über diese Definitionen hinausgeht", wie der deutsche Philosoph Jürgen Mittelstraß sagte. Aber das erfordert zumindest ein gewisses Maß an wissenschaftlicher und fachlicher Kompetenz.

Die wissenschaftliche Expertise der medizinischen Vortragenden ist fragwürdig. Weder Andreas Sönnichsen noch Christian Schubert noch Michael Meyen haben einen erkennbaren wissenschaftlichen Beitrag zur Virologie, zum Impfwesen oder zur Epidemiologie geleistet.

Hochzitiertes Opus

Der Wissenschaftsbetrieb ist sehr transparent: Man kann nicht nur die Publikationen von Expertinnen und Experten einsehen, man kann auch anhand von Datenbanken die Resonanz erheben, die diese Publikationen in der wissenschaftlichen Literatur erzeugt haben: Bedeutende Arbeiten werden oft zitiert.

International anerkannte Wissenschafterinnen und Wissenschafter haben daher ein hochzitiertes Opus. Der Zitationsindex der drei genannten Herren ist hingegen höflich formuliert bescheiden; das trifft auch auf die Organisatorin der Ringvorlesung zu. Man hätte sich eine Selbstbescheidung erwartet, die ihrem wissenschaftlichen Gewicht entspricht. Zumindest wäre das für die öffentliche Psychohygiene wünschenswert. (Michael Freissmuth, 7.10.2021)

Wer sind die Verharmloser?

Von Martin Sprenger

Ich wurde im Juli von der Organisatorin Andrea Komlosy, Historikerin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, angefragt, ob ich im Rahmen einer Ringvorlesung einen Vortrag halten möchte. Nachdem ich in den letzten achtzehn Monaten über hundert Lehrveranstaltungen über die gesundheitswissenschaftlichen Aspekte der Pandemie abgehalten hatte, sagte ich gleich zu. Großteils lehre ich im postgradualen Bereich vor Führungskräften aus dem Gesundheits- und Pflegebereich. Da wird die wissenschaftliche Studienlage mit Alltagserlebnissen und Erfahrungswissen verknüpft. Als "Verharmloser und Relativerer" wurde ich dort noch nie bezeichnet, eher im Gegenteil.

Mein Fokus liegt auf der sozialen Dimension der Pandemie, den dadurch entstehenden Ungleichheiten und den Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche. In diesen Bereichen würde ich die Politik und Medien als "Verharmloser und Relativerer" bezeichnen, da sie diesen Auswirkungen viel zu lange viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet haben. Mit realen gesundheitlichen, psychosozialen und ökonomischen Folgen.

Eine Ringvorlesung ist eine Vorlesungsreihe, bei der sich mehrere Vortragende aus verschiedenen Fachbereichen oder Hochschulen einem Thema widmen. Der Vorteil ist die vielfältige Präsentation von Sichtweisen eines Themengebiets. Soll ich also meine Teilnahme absagen, nur weil sich meine Sichtweise nicht mit der von anderen Vortragenden deckt? Weil aus irgendeinem Grund plötzlich die Medien bestimmen, wer an einer Universität vortragen darf und wer nicht?

Meine Antwort ist natürlich Nein. Gerade der akademische Bereich, die Universität lebt vom Diskurs. Die Philosophen Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel entwickelten zusammen eine Diskursethik. Diskurs ist bei ihnen der "Schauplatz kommunikativer Rationalität". Ein argumentativer Dialog, in dem über die Wahrheit von Behauptungen und die Legitimität von Normen gesprochen wird.

In diesem Sinne freue ich mich auf den Diskurs mit den Studierenden. Ich werde versuchen, ihnen die gesundheitswissenschaftliche Perspektive auf die Pandemie näher zu bringen. Ich finde es traurig, dass uns in Österreich das Miteinanderreden und die Wertschätzung und Akzeptanz anderer Meinungen und Sichtweisen abhandengekommen sind. Es mag rote Linien geben, aber "Kritik am politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der Corona-Pandemie" muss immer erlaubt, ja sogar erwünscht sein, und die Beurteilung, ob etwas "Verharmlosung oder Relativierung" ist, sollte im akademischen Bereich den am Diskurs Beteiligten überlassen bleiben. (Martin Sprenger, 7.10.2021)