Eigentlich wollte Zarminah* heuer an einer Privatuniversität in Kabul ihr Zahnmedizinstudium abschließen. "Ich wollte danach als Professorin unterrichten und ein Vorbild für Frauen sein", sagt die Studentin. Doch seit die Taliban die afghanische Hauptstadt besetzen, sorgt sie sich um ihre berufliche Zukunft: "Alle Frauen haben die Hoffnung verloren, ihre Ausbildung unter den Taliban zu absolvieren", sagt die 25-Jährige.

Mit dem Abzug der US-amerikanischen Truppen Ende August haben die Taliban Provinz für Provinz erobert. Seitdem beherrscht die radikalislamische Gruppierung beinahe das gesamte Land und kündigte an, auch den Hochschulbereich umzugestalten.

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan dürfen Studentinnen – wenn überhaupt – nur getrennt von Studenten am Unterricht teilnehmen. Hier hinter einem Paravent.
Foto: EPA/STRINGER

So verlautbarte der neue Bildungsminister Abdul Baqi Haqqani eine strikte Geschlechtertrennung. Frauen dürfen Unigebäude nicht gleichzeitig mit Männern betreten und müssen entweder räumlich oder durch einen Vorhang von ihnen getrennt am Unterricht teilnehmen. Hinzu kommen Kleidungsvorschriften: Frauen müssen ihr Gesicht bis auf die Augenpartie bedecken. Insgesamt soll die Lehre im Einklang mit der Scharia – einem Rechtssystem, das auf dem Koran basiert – erfolgen. Schon das "alte" Taliban-Regime von 1996 bis 2001 hatte Frauen nicht nur von Schulen und Unis ausgeschlossen, sondern auch aus dem öffentlichen Leben.

Keine Meinungsfreiheit

Die "neuen" Taliban versprechen zwar, Frauenrechte zu achten. Doch: "Das ist reine Imagepflege", sagt Kambiz Ghawami. Er ist Leiter des deutschen Komitees des World University Service (WUS), einer NGO, die sich für das Recht auf Bildung einsetzt und die Vereinten Nationen in Bildungsfragen berät. Die Taliban erhofften sich laut Ghawami dadurch, von der internationalen Gemeinschaft anerkannt zu werden. Und sie wollten so signalisieren, dass man mit ihnen diplomatische Beziehungen aufnehmen kann. Zudem behauptete Bildungsminister Haqqani, akademische Titel seien nichts wert, schließlich hätten viele Taliban nicht studiert. Wichtiger sei die Kenntnis des Korans.

DER STANDARD

Auch Lehrende und Forschende befinden sich dadurch in einer schwierigen Lage. Ihre Lehre könnten sie nicht mehr frei gestalten, erzählt ein Professor für Rechtswissenschaften aus Kabul. Er habe Angst, "ins Gefängnis gesteckt" zu werden: "Früher konnte ich über jedes politische Thema sprechen. Heute darf ich meine Meinung im Hörsaal nicht äußern." Viele seiner Kollegen hätten das Land verlassen, auch er wolle versuchen, zu fliehen.

Experten fürchten nicht nur, dass Fachkräfte und Wissenschafter aus Afghanistan abwandern, sondern auch, dass die Errungenschaften der vergangenen zwanzig Jahre verlorengehen. Als das Regime der Taliban 2001 zerschlagen wurde, investierte das Land mit Unterstützung aus dem Ausland stark in den Bildungssektor. Unis wurden gegründet, und Austauschprogramme entstanden. Zudem stieg die Zahl der Studierenden laut Unesco in den letzten 20 Jahren von 26.000 auf rund 430.000, ein Viertel davon Frauen.

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Männliche Studenten müssen derzeit nicht um ihr Studium fürchten – solange sie sich systemkonform verhalten. Denn die neue Regierung dürfte auch ihre akademische Laufbahn beeinflussen. Einen geplanten Umbau der Lehrpläne im Sinne seines Islamverständnisses gab der Bildungsminister bereits bekannt. "Veraltet, rückständig und voller religiöser Inhalte" stellt sich Hessam* die Zukunft der Lehrpläne vor. Der 26-Jährige studiert derzeit noch Informatik und Softwareentwicklung in Herat. "Ich verliere die Hoffnung und habe das Gefühl, umsonst studiert zu haben", sagt er.

Bildungsexperte Ghawami vom WUS vermutet zudem, dass die Taliban geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer abschaffen und hingegen technische fördern werden. Auch wenn nicht abzusehen sei, wie lange die Taliban herrschen werden, dürfe man nicht in Schockstarre verfallen, sondern müsse sich auf die Zukunft der Studierenden vorbereiten. Das deutsche Komitee des WUS möchte daher eine Online-Uni für afghanische Studierende im Exil und jene, die noch in ihrem Heimatland leben, aufbauen. Denn das Land bräuchte weiterhin gut ausgebildete Akademiker.

Für Studentinnen wie Zarminah bleibt das nur zu hoffen. Derzeit studiert sie nicht. Wie viele andere Studentinnen besuchte sie den Campus zuletzt nur mehr, um sich vorläufige Zeugnisse abzuholen. Damit will sie ihr Studium im Ausland beenden – sofern ihr die Ausreise gelingt. (Katharina Nieschalk, Allegra Mercedes Pirker, 8.10.2021)