Spätestens seit Donnerstagfrüh steht die türkis-grüne Regierungskoalition auf der Kippe, zumindest in ihrer jetzigen Form. Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler hat angesichts der schwerwiegenden Korruptionsvorwürfe und Ermittlungsschritte gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und dessen türkises Umfeld die Handlungsfähigkeit des Kanzlers infrage gestellt. Der Eindruck in der Causa sei "verheerend", sagte Kogler, mit den Ermittlungen sei eine "neue Dimension erreicht".

Im Laufe des Donnerstags wollen sich die Grünen daher mit den Klubobleuten der anderen Parlamentsparteien über die Zukunft austauschen. Die Oppositionsparteien haben außerdem eine Sondersitzung des Nationalrats beantragt, die binnen acht Werktagen stattfinden muss.

Doch welche politischen Szenarien können sich aus der aktuellen Gemengelage ergeben – und wie wahrscheinlich sind sie?

Weiter wie bisher

Schon bisher gab es in der türkis-grünen Ära gröbere Dispute, etwa rund um die Asylpolitik oder die Angriffe der ÖVP auf die Justiz. Dennoch blieb die Regierung ohne einen Wechsel der maßgeblichen Akteure nun schon fast zwei Jahre bestehen. Doch dass es diesmal wieder so weitergeht wie bisher, ist wenig wahrscheinlich, zumal man "nicht zur Tagesordnung übergehen" könne, wie Kogler betonte.

Die Grünen könnten nun versuchen, der in die Defensive geratenen ÖVP im Abtausch gegen eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Kurz weitreichende inhaltliche Zugeständnisse – etwa in Transparenzfragen und bei Korruptionsstrafbestimmungen – abzuringen.

Türkis-Grün ohne Kanzler Kurz

Doch Kogler zweifelte explizit an der Amtsfähigkeit des Kanzlers, sodass eine Fortsetzung mit Kurz als Regierungschef für die Grünen wohl nicht mehr gangbar scheint. Was zur nächsten Option führt: einer Fortsetzung der Koalition mit einem anderen Bundeskanzler. Dafür bräuchte es aber die Bereitschaft in der ÖVP, Kurz auszutauschen. Das gilt als äußerst unwahrscheinlich, da die Partei immer noch geschlossen hinter dem Parteichef steht, der einen Rücktritt vom Kanzlerposten selbst noch am Mittwoch kategorisch ausgeschlossen hat. Verfassungsrechtlich möglich wäre auch, dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen den Kanzler entlässt. Bisher gibt es hierfür keine Anzeichen. Van der Bellen war am Mittwoch um kalmierende Worte bemüht und stützte sich dabei auch auf die Unschuldsvermutung.

Misstrauensvotum im Nationalrat

Naheliegender sind demnach Szenarien, in denen die Grünen auf parlamentarischer Ebene gemeinsame Schritte mit der Opposition unternehmen, um eine Absetzung von Kurz herbeizuführen. Sowohl SPÖ, FPÖ als auch die Neos fordern bereits den Rücktritt des Kanzlers, bei der nahenden Sondersitzung des Nationalrats wollen sie einen Misstrauensantrag gegen Kurz einbringen. Für ein erfolgreiches Misstrauensvotum reicht eine einfache Mehrheit im Nationalrat, dafür bräuchte es aber neben der Opposition die Zustimmung von mindestens sechs Grünen-Abgeordneten. Die Konsequenz: Der Bundespräsident müsste den Kanzler aus dem Amt entheben.

Der Nationalrat kann auch die gesamte Regierung per Misstrauensvotum abwählen, wie es mit der kurzzeitigen ÖVP-Minderheitsregierung im Mai 2019 nach der Ibiza-Affäre und dem Platzen von Türkis-Blau geschah.

GRafik: APA

Doch was würde nach dem etwaigen Ende von Türkis-Grün blühen? Neuwahlen muss es nicht geben, denn der Bundespräsident kann nach eigenem Gutdünken auch einfach einen neuen Bundeskanzler ernennen und mit ihm eine neue Regierung abstimmen. Voraussetzung für eine stabile Regierung ist freilich, dass sie selbst nicht sofort wieder von einem Misstrauensantrag gekippt wird. Sie braucht also den Rückhalt der Abgeordnetenmehrheit.

Vier gegen eins

Die Klubs von Pamela Rendi-Wagner (SPÖ), Sigrid Maurer (Grüne), Beate Meinl-Reisinger (Neos) und Herbert Kickl (FPÖ) hätten zusammen eine Mehrheit gegen die ÖVP.
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Eine Option wäre eine Art Vierparteienregierung, in der sich alle außer der ÖVP repräsentiert sehen. Die Gretchenfrage ist hierbei, wie es SPÖ, Grüne und die Neos mit der FPÖ halten. Sie haben zuletzt alle eine Koalition mit den Freiheitlichen ausgeschlossen. Die Corona-Linie der FPÖ macht die Zusammenarbeit noch schwieriger.

Möglich wäre noch, dass die FPÖ eine Regierung aus SPÖ, Grünen und Neos duldet, zumindest vorübergehend. Klare blaue Signale in diese Richtung gibt es bisher nicht, wiewohl Klubobmann Herbert Kickl in einer Aussendung schrieb: "Wir werden uns Gesprächen, deren Ziel es ist, im Interesse der Bevölkerung die politische Hygiene in Österreich wiederherzustellen und die Schäden, die unserem Land durch ein System der strukturellen Korruption durch die ÖVP entstanden sind, zu beheben, grundsätzlich nicht verschließen." Noch am Donnerstag und am Freitag will Bundespräsident Van der Bellen alle Chefinnen und Chefs der Parlamentsparteien zu "Gesprächen aufgrund der aktuellen Situation" treffen.

Beamtenregierung à la Bierlein

Auf Erfahrungswerte der jüngeren österreichischen Geschichte könnte eine sogenannte "Expertenregierung" respektive "Beamtenregierung" bauen. Im Jahr 2019 führte Ex-Verfassungsrichterin Brigitte Bierlein eine solche für ein halbes Jahr bis zur Bildung von Türkis-Grün an. Das Problem daran: Da die Expertinnen und Experten keiner im Parlament vertretenen Partei angehören, sind sie vom freien Spiel der Kräfte im Nationalrat und dessen Beschlüssen abhängig, die sie kaum beeinflussen können. Eine konsistente inhaltliche Planung ist damit weit schwieriger umzusetzen als bei einer stabilen Koalitionsregierung, die sich (im Idealfall) langjährig akkordierten Projekten verschreibt und stets gemeinsam abstimmt.

Baldige Neuwahlen?

Die Legislaturperiode dauert noch bis Ende 2024, erst dann würde wieder regulär gewählt werden. Dass sich eine von SPÖ, Grünen und FPÖ abhängige Regierung – in welcher Form auch immer – bis dahin ohne ÖVP-Rückhalt im Amt halten könnte, ist aber schwer vorstellbar. Für vorgezogene Neuwahlen braucht es nämlich bloß einen Mehrheitsbeschluss im Nationalrat. Vorerst haben sich am Donnerstag sowohl SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner als auch Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger gegen baldige Neuwahlen positioniert. (Theo Anders, Oona Kroisleitner, 7.10.2021)