Erster Weltkrieg in einem expressionistischen Wien: Murathan Muslu (vorn) spielt in Stefan Ruzowitzkys "Hinterland" einen Kriegsheimkehrer, der nichts so vorfindet, wie es einmal war.

Freibeuter Film

Er habe sich selbst auf die Schulter klopfen können, erzählt Murathan Muslu, als Hinterland auf dem Filmfestival Locarno seine Premiere feierte. Je länger der Film lief, desto zufriedener war der Wiener Schauspieler; und das ist keine Selbstverständlichkeit bei diesem Mann, Muslu neigt zu kritischem Understatement. Die Spannung war auch deshalb groß, da Stefan Ruzowitzkys Thriller zur Gänze in der Blue Box entstanden ist. Die computergenierten Stadtbilder wurden erst in der Postproduktion eingefügt – da lässt sich das Endresultat vorab kaum ausmalen.

STANDARD: In "Hinterland" spielen Sie Peter Perg, einen Veteranen des Ersten Weltkriegs, der aus der Gefangenschaft heimkehrt. Nichts ist dann, wie es einmal war. Wie findet man in ein solches Mindset hinein?

Muslu: Zuerst mittels Recherche: Ich habe viel über den Ersten Weltkrieg gelesen, auch Dokumentarfilme waren hilfreich. Mir ist aber klar geworden, dass ich nicht in diese Zeit zurückgelangen kann. Ich kann die Figur nur mit meinen Augen betrachten. Also habe ich versucht, mir Bilder ins Gehirn einzubrennen. Manche habe ich lange angestarrt, bis ich sie verinnerlicht hatte. Ich habe mich quasi selbst indoktriniert.

STANDARD: Das ist doppelt interessant, da Sie ja die Bilder des Films nicht kannten. Hat Ihnen Ihre Methode auch geholfen, um vor Blue Screens besser agieren zu können?

Muslu: Ehrlich gesagt bin ich einfach ins kalte Wasser gesprungen. Ich hatte vor allem mit dem Boden in der Blue Box Schwierigkeiten und nicht so sehr mit der fehlenden realen Umgebung. Der Boden war spiegelglatt, das kenne ich von Sets nicht. Da spürt man immer etwas, knirschendes Parkett oder Fliesen. Das Positive am Blue Screen ist, dass man noch intensiver mit seinen Spielpartnern agiert. Die Visual-Effects-Meister und der Kameramann gaben uns auch Skizzen, sodass wir uns den Raum vorstellen konnten.

STANDARD:Das heißt, die Choreografie gewinnt an Bedeutung?

Muslu: Definitiv. Da spielt jeder Zentimeter eine Rolle. Steht man ein wenig zu rechts, ist man plötzlich ein Teil der Mauer; zu weit links, und du bist an der Kante des Gehsteigs. Die Welt bleibt dabei zwar abstrakt, aber man kann sich das im Spiel schon vorstellen.

STANDARD: "Hinterland" ist nicht nur ein Kriegsheimkehrerdrama, sondern ein Thriller mit Verweisen auf das Kino der Weimarer Republik. Konnten Sie mit diesem filmischen Hintergrund etwas anfangen?

Muslu: Mich interessiert an den Filmen dieser Zeit, wie sie den Krieg als Hintergrund benutzen. Ruzowitzky war es ja besonders wichtig, dass Hinterland ein Antikriegsfilm ist. Und Kriminalgeschichten mag ich sowieso: Ich bin ein großer Fan der Serie Peaky Blinders, die auch nach dem Ersten Weltkrieg spielt. Oder von The Untouchables. Historische Genrefilme schätze ich schon aufgrund der Kostüme. Barock vielleicht nicht so – man muss schon auch optisch hineinpassen!

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STANDARD: Ich habe gelesen, dass Sie immer noch eine große VHS-Kassetten-Sammlung besitzen …

Muslu: Ja, ich habe 600 Stück daheim und wollte als Jugendlicher eine Wand voll mit diesen Kassetten aufstellen, bis zur Decke. Dafür hat es dann aber nicht gereicht.

STANDARD: Ihre Liebe zum Film war also früh da. Es hat dann aber etwas gedauert. Sie haben davor als Rapper und auf dem Bau gearbeitet.

Muslu: Bei meinem ersten Dreh habe ich an einem Tag so viel verdient wie nie zuvor. Da dachte ich, ich bleibe dabei. Das waren 400 Euro, ich war baff – ich kam damals wirklich von der Baustelle. Zuerst hat es ein wenig gedauert, aber dann kam ein Jahrzehnt, wo ich immens viel gedreht habe. Ich habe dann realisiert, dass ich entschleunigen muss und mehr Ernsthaftigkeit brauche. Inzwischen arbeite ich stark an der Technik und versuche, mich nicht zu sehr zu verausgaben. Es gab Fälle, da sind mir vor lauter Einsatz Adern auf der Stirn geplatzt.

STANDARD: Dosieren Sie jetzt anders? Den Peter Perg spielen Sie ja durchaus zurückgenommen.

Muslu: Ja, aber es ist ein Autodidaktensystem. Ich versuche immer, das Wichtige herauszufiltern. Wenn man sich zu viel Neues aneignet, ist es auch nicht gut – das würde mich verfälschen. Auf dem Set bin ich ein Einzelgänger, ich behalte gerne die Kopfhörer auf.

STANDARD: Sie sind Wiener türkischer Herkunft. Diversity wird auch im Film großgeschrieben. Wie beurteilen Sie die Entwicklung in Österreich?

Muslu: In den letzten Jahren sind Filme insgesamt vielfältiger geworden, auch weibliche Figuren bekommen in Actionfilmen endlich Hauptrollen. Auch bei People of Color sieht man international eine Entwicklung, sie nehmen bereits bessere Rollen ein. In Österreich ist das noch etwas anders, da sind sie weitgehend unsichtbar. Man gibt ihnen zu wenige Chancen. Ich bin jedoch überzeugt, dass das irgendwann kein Thema mehr sein wird. Und ich sage das jetzt nicht, weil ich türkischstämmig bin: Ich bin Ottakringer und in Wien auf die Welt gekommen. Ich bin jedes Mal glücklich, wenn ich von einer Reise nach Ottakring heimkomme.

STANDARD: Woran liegt dieses Manko Ihrer Meinung nach?

Muslu: Zum Beispiel an den Drehbüchern, die dieses Schwarz-Weiß-Denken oft vorgeben. Ich lese sehr viele davon und lehne auch viele ab. Wenn es wirklich um die Geschichte gehen würde und nicht so sehr, welche Identität oder Hautfarbe eine Person hat, dann würde man auch nicht so viele Dinge erklären müssen. Da sind uns die Amerikaner voraus. Wir müssen viel mutiger werden.

STANDARD: Was halten Sie von denAmazon-Diversity-Richtlinien, die mehr Inklusion ermöglichen sollen?

Muslu: Das erinnert mich eher an schlimme Zeiten … Warum soll nur ein Homosexueller einen Homosexuellen, nur ein Türke einen Türken spielen? Am besten wäre es, man gäbe weder die Hautfarbe noch den Namen einer Figur beim Casting an, und wer die Figur erkennt, sie also am besten performt, der soll auch die Rolle bekommen.

STANDARD: Kennen Sie den Riz-Test von Riz Ahmed? Er zeigt, woran man einen stereotypen Part erkennt.

Muslu: Ich kann mich nicht beschweren, ich habe auch schon mal einen Markus und jetzt einen Peter gespielt. Mir werden aber auch gerne Figuren mit dunklerer Hautfarbe angeboten. Wenn es deutsche Filme über die Hitlerzeit gibt, bekomme ich nicht einmal eine Anfrage. Ich würde gerne einmal einen Hooligan spielen. Mit Glatze sehe ich auch wie einer aus! Da gibt es beim Casting einige Hemmschwellen.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, dass Sie immer noch nach einem Film suchen, in dem alles stimmt. Das zeigt, dass Sie auch den Produktionsbereich kritisch sehen.

Muslu: In Mitteleuropa herrscht bei den Drehs oft zu wenig Zeit, um den Szenen wirklich gerecht werden zu können. Man kann nicht immer das zeigen, was möglich wäre – im Unterschied zu internationalen Filmen mit großen Budgets, für die man Kampfszenen auch fünf bis acht Tage lang dreht. Ich würde mir wünschen, dass man dem Film insgesamt mehr Hochachtung erweist – und ihm größere Budgets gibt. (Dominik Kamalzadeh, 8.10.2021)