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Wahlkampf in Bagdad: Ein Teil der Kandidatinnen wird den Einzug ins Parlament schaffen, für sie ist ein Viertel der Sitze reserviert.

Foto: AP / Hadi Mizban

Seit 2005 – zwei Jahre nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein durch eine US-geführte Militärkoalition – gehen die Iraker und Irakerinnen trotz aller Widernisse regelmäßig zu den Urnen, um ein Parlament zu wählen. Das letzte Mal war im Mai 2018, die Regierungsbildung erfolgte im Oktober. Ein Jahr später brachen jene Proteste los, deren Hauptanliegen es war, das vermeintlich demokratische System zu ändern: Denn die "Muhassasa" – eine Aufteilung der Macht unter den konfessionellen und ethnischen Gruppen und Parteien, denen man angehören muss, um davon zu profitieren – bringe bei Wahlen immer wieder nur die gleichen politischen mafiösen Strukturen hervor. Für alle anderen Bevölkerungsteile gebe es keine Jobs, keine staatlichen Dienstleistungen, nichts.

Am Sonntag finden nun um ein halbes Jahr vorgezogene Parlamentswahlen statt. Es gibt 25 Millionen Wahlberechtigte, mehr als 3200 Kandidaten und Kandidatinnen bewerben sich um 329 Sitze. Es gibt eine Frauenquote von 25 Prozent und neun fixe Mandate für ethnisch-religiöse Minderheiten. Und das Wahlrecht ist neu: Das System der nichtübertragbaren Einzelstimmgebung in 83 Wahlbezirken (früher 18, die Provinzen) anstelle des Verhältniswahlrechts soll mehr unabhängige lokale Kandidaten und Kandidatinnen ins Parlament bringen, auf Kosten der Repräsentanten der "alten" Parteien.

Von Kadhimi enttäuscht

Das dürfte auch funktionieren – und dennoch rufen die "Tishrinis" zum Wahlboykott auf. "Tishrin", Oktober, war der Monat, in dem sich 2019 die Protestwelle ausbreitete. Hunderte Demonstranten und Aktivistinnen wurden seitdem getötet, verschleppt, misshandelt. Die 2018 gebildete Regierung unter Adel Abdel Mahdi trat zurück. Vom im Mai 2020 ins Amt gekommenen Premier Mustafa al-Kadhimi erhofften sich die Demonstranten und Demonstrantinnen die Verfolgung der Täter und Gerechtigkeit – und wurden enttäuscht.

Es gibt aber auch noch andere Gründe, die das Vertrauen in eine Erneuerung begrenzt halten. Im Irak gibt es das Phänomen, dass sich die zahlreichen Parteien und Blöcke – und natürlich auch unabhängige Kandidaten – nach den Wahlen im Parlament auf der Suche nach Mehrheiten oft völlig neu orientieren. Vor den Wahlen getroffene Absprachen und Versprechungen gelten dann nichts mehr, nach den Wahlen beginnt sozusagen das Rosstauschen, um den "stärksten Block" zu bilden, der den Premier nominiert. Auch das Vertrauen in die "Unabhängigkeit" der durch das Wahlrecht begünstigten Einzelkandidaten ist beschränkt: Oft weiß man genau, für welche Partei er oder sie steht, auch wenn sie auf dem Wahlplakat nicht aufscheint. Am Ende werden sich doch wieder die starken, auf nationaler Ebene verbreiteten alten Netzwerke durchsetzen, fürchten nicht nur die Tishrinis.

Wahlaufruf Sistanis

Bei den Wahlen 2018 lag die Wahlbeteiligung bereits unter 50 Prozent. Dass der berühmteste schiitische Geistliche des Landes, der greise Großayatollah Ali Sistani, mit seinem Wahlaufruf diesmal die jungen Menschen im Süden mobilisieren kann, ist zu bezweifeln. Dort sind die Probleme – etwa mit Wasser und Elektrizität – besonders groß und die Protestbewegung besonders stark. Der Irak wurde stark von Corona getroffen, was auch die Demonstrationen eingedämmt hat, aber sie können jederzeit wieder ausbrechen.

Die Chancen von Mustafa al-Kadhimi, 54-jähriger ehemaliger Journalist sowie irakischer Geheimdienstchef und unabhängig, noch einmal mit der Regierungsbildung beauftragt zu werden, sind dennoch nicht schlecht. Kadhimi war bereits 2020, nachdem andere Kandidaten an der Regierungsbildung gescheitert waren, ein Kompromiss zwischen den US- und den Iran-freundlichen Kräften. Er kann auf Unterstützung von Kurden, Sunniten und gemäßigten Schiiten zählen, aber auch die Teheran-Loyalen können mit ihm leben. Bei einem Teheran-Besuch Mitte September wurde er zwar nicht von Religionsführer Ali Khamenei empfangen, dafür wurde er danach mit einem "handgeschriebenen" Brief Khameneis getröstet. Er hat zuletzt versucht, sich auf regionalpolitischer Ebene zu profilieren, und Ende August zu einem Gipfel nach Bagdad geladen, an dem auch die Außenminister des Iran und Saudi-Arabiens teilnahmen. Die Stabilität des Irak hängt auch stark vom Willen der Nachbarn und Regionalmächte ab. Kadhimi hat versucht, die Beziehungen zu den arabischen Staaten zu verbessern, die durch den iranischen Einfluss im Irak nach 2003 stark beeinträchtigt wurden.

Bei den Wahlen 2018 ging die Gruppe des schiitischen Mullahs Muqtada al-Sadr als stärkste hervor. Damals trat sie gemeinsam mit den Kommunisten an, die diesmal zum Boykott aufrufen. Sadr, dessen Mahdi-Armee im schiitisch-sunnitischen Bürgerkrieg ab 2006 eine schreckliche Rolle spielte, betont heute seine Unabhängigkeit von Teheran. Aber bereits die zweitstärkste Gruppe im Parlament, die Fatah, besteht aus Kräften, die zu einem Gutteil Teheran nahestehen. Sie ist der politische Arm der schiitischen Milizen.

Die Liste der antretenden Parteien und Listen ist lang. Obwohl die ethnische und konfessionelle Identität zumindest offiziell nicht mehr in den Vordergrund gestellt wird, gibt es Versuche der Allianzenbildung unter diesem Mantel. Aber alle – Schiiten, Sunniten und Kurden – sind auch untereinander zerstritten.

Israel-Kontroverse

Wie fragil die Situation im Irak bleibt, zeigte sich Ende September bei der Aufregung um eine Konferenz in Erbil, der Hauptstadt der kurdischen autonomen Region: Eine US-Organisation hatte einige Vertreter der irakischen Zivilgesellschaft eingeladen, um eine mögliche Annäherung an Israel nach dem Modell der "Abraham-Abkommen", die die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Marokko und Sudan mit Israel abgeschlossen haben, zu diskutieren. In der Folge wurden in Bagdad Haftbefehle gegen die vorwiegend sunnitischen irakischen Teilnehmer erlassen, die jedoch von den Kurden nicht ausgeliefert wurden. Schiitische Milizen drohten den "Verrätern" mit dem Tod. (Gudrun Harrer, 8.10.2021)