Wieder ein Familienepos: Jonathan Franzen.

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Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht", heißt es im Hohelied der Liebe im Neuen Testament. Wen wundert es da, dass das neue Werk Crossroads von Jonathan Franzen, das das Leben eines Priesters und seiner Familie schildert, voll von Spiegelungen ist? Niemanden. So witzig und leichtfüßig sich dieser rund 830 Seiten lange Roman nämlich auch liest, so komplex und durchdacht ist seine Struktur.

Dass Vergangenheit und Gegenwart ineinanderstecken wie verfilzte Haare, wird schon bald klar: Zentraler Ausgangspunkt des Settings sind zwar die Siebzigerjahre – doch auch der Zweite Weltkrieg und die damit einhergehenden Traumatisierungen der amerikanischen Bevölkerung schimmern immer wieder hindurch.

Als wäre das nicht genug, holen darüber hinaus persönliche Verwundungen der Vergangenheit die Figuren ein: So gerät auch das Dasein der psychisch kranken Marion, die durch ihre Therapeutin Sophie und das Kalorienzählen eine gewisse Stabilität in ihrem Leben erlangt hat, immer mehr ins Wanken.

Tradition

Crossroads ist ein Familienepos der etwas anderen Art. Dass es um Tradition geht, wird bereits in der Gliederung deutlich: Während die erste Hälfte mit "Advent" übertitelt ist, nennt sich die zweite "Ostern" – beides Feste, die seit Jahrhunderten in fast allen katholischen Traditionen gefeiert werden.

Aber auch die Protagonisten selbst, die uns hier mit all ihrem Charme, ihrer Intelligenz, ihrem Witz und ihrer Tragik begegnen, spiegeln sich ineinander: Da ist Marion, die Mutter, die an Depressionen leidet, und Russ Hildebrandt, der Vater der Familie, ein Möchtegernheiliger, der in Wahrheit mit seinem Glauben ringt.

Ihnen werden die Kinder gegenübergestellt: Während Sohn Perry die Welt des Marihuanas entdeckt und somit eine Entsprechung der depressiven Mutter darstellt, ist die von allen geliebte Tochter Becky das Pendant des Vaters. Zunächst läuft alles ganz gut.

Paradigmenwechsel

Dass diese Systemerhaltung ein Ende haben muss, ist bei 800 Seiten Erzählung jedoch klar, oder? Angelpunkt der Story ist der Moment, in dem ein jüngerer Pfarrer in der Gemeinde auftaucht und beginnt, dem eben noch so verwurzelten Russ Konkurrenz zu machen: Er gründet eine Jugendgruppe, der er den Namen "Crossroads" gibt – diese führt einen Paradigmenwechsel in der eben noch so harmonischen Welt des Priesters Russ ein.

In der neuen Gemeinschaft geht es nämlich nicht mehr darum, Rosenkränze zu beten oder kniend das Haupt vor dem Allmächtigen zu beugen – nein, die jungen Menschen sollen lernen, das "Risiko echter Nähe" in Kauf zu nehmen und sich von der Gemeinschaft helfen zu lassen.

Dass die neue Bewegung bei den Jugendlichen überaus beliebt ist, stürzt Russ in eine Art Midlife-Crisis. Während ihm Marion, die regelmäßig ihre Therapeutin aufsucht und auch sonst eher schwierig zu handhaben ist, plötzlich noch übergewichtiger vorkommt, entgleiten ihm auch die eigenen vier Kinder – sie fühlen sich inzwischen bei der jungen Witwe Frances, die neu zur Gemeinde gestoßen ist, wohler als bei ihm daheim. Aber leider kommt es noch schlimmer: Das Ganze gipfelt schließlich darin, dass Marion ihren Mann betrügt, während ihr Sohn versucht, sich umzubringen.

Ersatz für Göttlichkeit

Franzens Text ist überaus zeitgemäß, auch wenn er in den 1970er- Jahren spielt: Die Allmacht, die man früher Gott gab, wird nun mehr und mehr ausgelagert, genau wie man es auch im gegenwärtigen Europa beobachten kann.

Da ist die Therapeutin Sophie, die immer mehr Macht über die Figur Marion gewinnt; da sind die Drogen, die eine Art Ersatz der Göttlichkeit für ihren Sohn Perry werden; da ist das Ringen mit der Traumatisierung des Weltkriegs, da ist die Sehnsucht nach einer höheren Macht.

Was so tragisch und archetypisch klingt, liest sich jedoch locker und leicht. Denn um dem harten Plot etwas entgegenzusetzen, hat Franzen auf den Spuren von Autoren wie Fitzgerald eine Sprache gefunden, die das Geschehen mit einem swingenden Ton "erdet". Doch damit nicht genug: Intelligent und diskursiv ist dieser Roman nämlich auch – und er wirkt dabei doch nie belehrend.

Werk der Postmoderne

Dieser multiperspektivisch erzählte Roman ist voll von Verweisen, Textformen und Anspielungen (Briefe, Popsongs, Tagebuchnotizen der jungen Becky), ein Werk der Postmoderne schlechthin! Franzens Sprache hat aber mehr zu bieten als bloß Querverbindungen: Crossroads lebt von den Dialogen, die sich leicht und flutschig lesen lassen, hinter denen aber der Abgrund lauert: "Ich habe einen Fehler gemacht", heißt es in einer der letzten Szenen, als Russ sich sein Versagen eingesteht. Als Antwort von Marion kommt bloß: "Wir machen alle Fehler. Ich versuche nur, praktisch zu denken."

Weise Worte, oder? Trotzdem: vielleicht bloß Worte. Denn: So liebevoll und menschlich die scheiternden Figuren gezeigt werden, ob sie etwas aus ihrem Scheitern lernen, bleibt offen. Entkommen tun sich die Mitglieder der Familie Hildebrand nicht. Ein überaus lesenswerter, traurig-witziger und intelligent gebauter Roman. (Sophie Reyer, ALBUM, 9.10.2021)