Warnte vor größerem Flüchtlingszustrom: Günther Platter. Die Grünen kommentierten seine Aussage nicht.

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Wien – Türkis wolle mit Sebastian Kurz für Österreich weiter Bundesverantwortung tragen, sagte der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter Donnerstagabend nach einem Treffen der ÖVP-Granden in Wien. Und er ließ mit einem Thema aufhorchen, das für Türkis politisch eine zentrale Rolle spielt und bei dem sich sämtliche Regierungen unter Kanzler Kurz mit Härte profiliert haben: "Wir werden mit einer Fluchtwelle konfrontiert werden", sagte Platter.

Kein Kommentar dazu kam am Freitag von den Grünen. Platters Wort seien "im Kontext der aktuellen innenpolitischen Entwicklungen" gefallen, daher wolle sie nichts entgegnen, sagte die Nationalratsabgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic.

Plus 222,14 Prozent bei Anträgen im Jahresvergleich, ...

Wie jedoch ist Platters Äußerung zu verstehen? Ist das bereits eine Vorbereitung auf einen möglichen neuerlichen Wahlkampf ? Und ist an der "Fluchtwellen"-Prognose etwas dran? Ein Blick in die Asylstatistiken des Innenministeriums in Wien zeigt: Tatsächlich hat die Zahl der in Österreich gestellten Asylanträge im heurigen Sommer von Monat zu Monat zugenommen, von 2.131 im Juni auf 4.758 im August.

Im Vergleich mit den zwei vergangenen Jahren ist das Asylantragsplus noch eindeutiger. 1.141 Menschen suchten im August 2019 um Schutz in Österreich an – im Jahr vor der Corona-Krise, die die Fluchtbewegungen dann international sehr dämpfte. 1.447 Menschen waren es im August des ersten Corona-Jahrs 2020. Im Vergleich dazu waren es im August 2021 dann um 222,14 Prozent mehr.

... jedoch keine größere Fluchtbewegung in die EU

Ist das schon der Beginn der von Platter erwähnten Fluchtwelle? Wenn man unter "Fluchtwelle" eine massive Bewegung Schutzsuchender in und durch die EU versteht, wie sie im Jahr 2015 stattfand, sicher nicht. Laut der Database der UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR gab es von ersten Jänner bis dritten Oktober 2021 insgesamt 84.528 Flüchtlingsankünfte an den EU-Außengrenzen in Italien, Spanien und Griechenland.

Im Gesamtjahr 2019 waren es 123.000 gewesen, unterm Corona-Schock 2020 dann insgesamt nur 95.000. Zum Vergleich: Im Jahr der großen Fluchtbewegung 2015 wurden allein in Österreich 89.098 Asylanträge registriert.

Weiterflucht vom Westbalkan

Woher aber kommen dann die relativ vielen Menschen aus Syrien, gefolgt von Afghanistan und Marokko, die jetzt, in diesen Monaten, in Österreich um internationalen Schutz ersuchen? Tatsächlich sei Österreich mit diesem Plus innerhalb der EU in einer besonderen Situation, in den meisten anderen Unionsstaaten seien die Zahlen heuer gesunken, sagt Ruth Schöffl, Sprecherin des UNHCR in Wien.

Eine mögliche Antwort liefert Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität, des Menschenhandels und des grenzüberschreitenden Prostitutionshandels im Bundeskriminalamt. Bei vielen der in Österreich jetzt ankommenden Personen handle es sich um Weiterreisende innerhalb Europas, sagt er.

Die meisten von ihnen hätten bereits einen oder sogar mehrere Winter auf dem Westbalkan verbracht, vielfach unter sehr schlechten Bedingungen. Das wollten sie nicht noch einmal erleben. Daher hätten sie sich wieder aufgemacht, in Richtung Österreich und Deutschland.

Noch kein Plus durch Afghanistan-Krise

Aus Griechenland wiederum kämen – über verschlungene Wege durch die Balkanstaaten – Menschen, die dort zwar Asyl erhalten, aber keine Existenzgrundlage hätten.

Noch keinen Einfluss auf die Zahl Ankommender in der EU und in Österreich habe die Wiedereroberung Afghanistans durch die Taliban. Für die kommenden Monate und Jahre jedoch rechnet Tatzgern mit mehr Asylsuchenden aus der Region. Aus dem Iran, wo viele Afghanen leben – und bisher Hoffnung auf eine mögliche Rückkehr hatten –, seien bereits Absetzbewegungen in Richtung Türkei bemerkbar.

Asylkoordination: Versorgungskrise in Österreich ante portas

Von krisenhaften Entwicklungen im Umgang mit den höheren Asylantragszahlen in Österreich berichtet indes Herbert Langthaler von der österreichischen Asylkoordination. "Hier bahnt sich eine neuerliche Versorgungskrise an", sagt er. In den vergangenen Monaten habe zwar der Bund eine Reihe zusätzlicher Asylquartieren wiedereröffnet, diese seien jedoch inzwischen voll ausgelastet.

"Das Problem ist, dass es nicht genug Unterbringungsmöglichkeiten in den Bundesländern gibt" – wohin Asylwerber überstellt werden sollten, sobald klar ist, dass ihr Antrag in Österreich bearbeitet wird –, sagt Langthaler. Mit den aktuellen niedrigen Tagsätzen sei es extrem schwierig, Quartiere wiederzueröffnen, die aufgrund der stark gesunkenen Flüchtlingszahlen in der Jahren nach 2015 geschlossen wurden. Vor allem für Fluchtwaisen – unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die intensivere Betreuung als Erwachsenen oder Familien brauchen – sei das de facto unmöglich. (Irene Brickner, 8.10.2021)