Der frühere Grünen-Nationalratsabgeordnete Harald Walser kritisiert in seinem Gastbeitrag die Arbeit der Regierung.

Mit dieser ÖVP ist kein Staat mehr zu machen. Schon gar nicht eine Reformpolitik. Was die Grünen in den vergangenen Monaten an Demütigungen durch den Koalitions"partner" akzeptiert haben oder aus Sicht der Verantwortlichen akzeptieren mussten, hat längst das Maß des Erträglichen überstiegen.

Völlig wahnwitzig und de facto nicht durchsetzbar war die Forderung, Menschen auch noch während und nach der Machtübernahme durch die Taliban nach Afghanistan abzuschieben. Nach Afghanistan! Und die Menschenrechte?

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Auch bei den Grünen heißt es "Weitermachen wie bisher ist nicht mehr". Aber was tun? Wie sich inhaltlich positionieren?
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Durchsetzbar aber war, in Österreich geborene Kinder auch nach langjährigem Aufenthalt und Schulbesuch bei uns in ihre "Heimatländer", die sie nie gesehen hatten, abzuschieben. Von den Kindern, die man im Schlamm von Moria liegen lässt, gar nicht zu reden. Das alles ist an Boshaftigkeit wohl kaum zu überbieten. Und sozialpolitisch? Statt die untersten Einkommen zu unterstützen und damit die Konjunktur anzukurbeln, will die ÖVP genau dort den Sparstift ansetzen und das Arbeitslosengeld kürzen. Dabei ist es schon jetzt bei 55 Prozent Nettoersatzrate im Europaschnitt extrem niedrig.

Schließlich neben den Menschenrechten ein Herzstück grüner Politik: der Klimaschutz. Soll die vergangene Woche präsentierte Ökosteuerreform wirklich das Beste aus der grünen Welt sein? Während es etwa in Schweden seit 1991 eine CO2-Bepreisung gibt, die dort 120 Euro pro Tonne ausmacht, den Verkehrs- und Gebäudesektor betrifft und jährlich mit der Inflation angepasst wird, beginnen wir nächstes Jahr mit 30 Euro! Das ist bestenfalls eine Ökosteuerreform light.

Die Aufzählung könnte problemlos fortgeführt werden. Weder im Bildungsbereich noch im ökologisch so wichtigen Landwirtschaftsbereich gab es von türkiser Seite substanzielle Zugeständnisse. Jetzt ist das Maß voll!

Zentrale Instanzen

Dazu beigetragen hat auch die von Kanzler Sebastian Kurz zum Ausdruck gebrachte Verachtung gegenüber zentralen Instanzen unseres Justizsystems und die Verhöhnung des Rechtsstaats durch ÖVP-Abgeordnete wie zuletzt Andreas Hanger ("linke Zellen") und Gabriela Schwarz mit ihrem verräterischen "Es ist nichts mehr da" im Vorfeld der Hausdurchsuchung – nicht etwa: "Es gibt nichts, und es gab nie etwas." Wohl auch der letzte involvierte türkise Funktionär dürfte da gewusst haben, was zu tun ist.

So etwas ist in der türkisenen Welt möglich, in der grünen nicht. Es gab gute Gründe für eine Koalition mit der ÖVP. Auch das Argument, man habe "Ärgeres" verhindern wollen, ist nachvollziehbar. Die Alternativen für die ÖVP wären ein scheintote SPÖ und eine völlig aus dem Ruder gelaufene rechtsextreme FPÖ gewesen. Doch die Voraussetzungen für die Grünen waren extrem schwierig. Es gab 2019 keinen Parlamentsklub, die neu gewählten Abgeordneten hatten größtenteils keine oder nur wenig politische Erfahrung. Die ÖVP und Kurz sind verantwortlich für die jetzige Krise. In kaum zu überbietender Arroganz schwelgten ihre Spitzenfunktionäre im Gefühl der Unantastbarkeit. Die Partei ist kommunikativ allerdings bestens aufgestellt und strickt schon an der Legende, dass der unumgängliche Bruch der Koalition ganz allein in der Verantwortung der Grünen liege und nicht etwa im eigenen Fehlverhalten.

Die Grünen haben nicht nur in Sachen Kommunikation Nachhol- und Lernbedarf. Die grüne Handschrift muss deutlicher sichtbar werden – durchaus auch in jenen Bereichen, die in Ressortzuständigkeit des Koalitionspartners liegen.

Dünnes Eis

Und bei einem Partner wie der ÖVP muss eines klar sein: Es ist ein dünnes Eis, auf dem wir uns bewegen. Demokratie ist nichts Selbstverständliches. Sie muss tagtäglich geschützt werden und braucht die unabhängige Justiz ebenso wie eine freie Presse. Das sollte der ÖVP deutlich kommuniziert werden, wenn nötig, auch öffentlich.

Zum türkisen Gejammer von wegen "Vorverurteilung": Natürlich gilt bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung das Prinzip der Unschuldsvermutung. Aber an politische Ämter sind höhere Ansprüche zu stellen. Wenn auf rechtskräftige Verurteilungen gewartet werden müsste, wären sogar Karl-Heinz Grasser und Heinz-Christian Strache noch im Amt. Denkbar? (Harald Walser, 8.10.2021)