Bereits am Donnerstag wurde in Warschau gegen die Abkehr vom EU-Recht protestiert: Ein drohender "Polexit" sei ein "Geschenk für Putin".

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Was jetzt? In die allgemeine Empörung über die jüngsten Nachrichten aus Warschau mischte sich am Freitag auch eine Portion Ratlosigkeit. Immerhin hatte Polens Verfassungsgericht am Vorabend geurteilt, dass die eigene, nationale Verfassung höher stehe als das EU-Recht.

Premier Mateusz Morawiecki persönlich hatte sich mit der Frage an das Gericht gewandt, nachdem Polen wegen seiner umstrittenen Justizreformen immer mehr unter Druck der EU gekommen war. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte Teile dieser Reformen beanstandet. Zuletzt verlangte er die Auflösung einer neuen Disziplinarkammer am Obersten Gericht, zumal diese Richterinnen und Richter politisch unter Druck setzen könnte.

Kaum jemand wollte Warschau am Tag eins nach der mit Spannung erwarteten Entscheidung offen den EU-Austritt nahelegen. Gleichzeitig machten führende Politikerinnen und Politiker in der Union aber klar, dass Polen eine rote Linie überschritten habe. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen etwa kritisierte das Urteil scharf: EU-Recht habe Vorrang vor nationalem Recht – einschließlich der Verfassungsbestimmungen in den einzelnen Ländern. "Dazu haben sich alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verpflichtet", sagte sie.

Aufruf zu Protesten

Frankreichs Europaminister Clément Beaune wagte immerhin die Formulierung, es bestehe "de facto die Gefahr eines Austritts (Polens, Anm.) aus der Europäischen Union". Seine österreichische Amtskollegin Karoline Edtstadler bezeichnete das Urteil am Freitag als "dramatisch". Sie wolle aber "nicht so weit gehen, dass ich damit schon das Einleiten eines Austritts Polens aus der EU herbeirede". In Warschau selbst rief der ehemalige EU-Ratspräsident und polnische Oppositionsführer Donald Tusk für Sonntag zu Protesten auf.

Die Aufregung ist nicht unbegründet: Das Urteil stellt eine zentrale Säule der europäischen Integration infrage – die grenzüberschreitende Rechtssicherheit durch Anerkennung der EU-Verträge, des Gemeinschaftsrechts und des EuGH als oberste Instanz in Streitfällen.

Rauswurf unmöglich

Auch der Europarechtsexperte Walter Obwexer von der Universität Innsbruck weist auf die Tragweite der Entscheidung hin: Polens Verfassungsgericht habe nicht nur beschlossen, dass der EuGH bei Fragen zur polnischen Gerichtsbarkeit über seine Befugnisse hinaus entschieden habe, sondern sei einen entscheidenden Schritt weiter gegangen: "Es stellt fest, dass mehrere Bestimmungen des EU-Vertrags der polnischen Verfassung widersprechen – und dass das Unionsrecht dem Grundsatz des Vorrangs der polnischen Verfassung und der Souveränität Polens widerspricht."

Daraus, so Obwexer, ergäben sich für Warschau nur zwei Möglichkeiten: "Entweder Polen ändert seine Verfassung so, dass sie mit dem Unionsrecht kompatibel ist, oder aber es zieht die Konsequenzen und tritt aus dieser Union aus."

Wenn Polen seine Verfassung nicht ändern, aber auch nicht aus der EU austreten will, wird es knifflig: Den Austritt kann nur der Mitgliedsstaat selbst in die Wege leiten, wie es bisher lediglich in Großbritannien geschehen ist. Einen Rauswurf sehen die Verträge nicht vor.

Finanzielle Sanktionen

Vorerst stehen freilich weitere Verfahren gegen Polen im Raum. Ebenso drohen dem Land finanzielle Sanktionen auf Basis der Konditionalitätenverordnung, die die Auszahlung von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien knüpft. Der Grundgedanke: Wenn in einem Land die Anwendung von EU-Recht nicht garantiert ist, dann kann auch die korrekte Verwendung europäischer Steuergelder nicht gewährleistet werden. (Gerald Schubert, 8.10.2021)