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Die Causa Ischgl könnte vor dem Europäischen Gerichtshof landen.

Foto: Reuters / Leonhard Föger

Die Schadenersatzklagen der Corona-Opfer in Ischgl haben international für Aufsehen gesorgt. Der Frage, ob die Vorkommnisse in Ischgl im März 2020 schadenersatzbegründendes behördliches Fehlverhalten darstellen, kommt große Aufmerksamkeit zu.

Die Klärung der dabei aufgetretenen Rechtsfragen könnte weit über diesen Sachverhalt hinaus von Bedeutung sein, nicht nur für die österreichische Rechtsordnung, sondern für die Auslegung des EU-Rechts insgesamt.

Schon am ersten Prozesstag im September hat sich eine Vorfrage gezeigt, die prozessentscheidend sein könnte: Begründet das Epidemiegesetz überhaupt individualrechtliche Ansprüche? Die Finanzprokuratur bestreitet dies, und zunächst hat sich eine Stimmungslage abgezeichnet, die dazu führen könnte, dass die Republik hier recht behalten könnte.

Dabei wurde aber ein wesentliches Element übersehen: Die Ischgl-Problematik ist auch von EU-rechtlicher Relevanz. Das lässt sich über mehrere Ansätze argumentieren.

Schutzpflichten

Der unmittelbarste wäre folgender: Die Touristen in Ischgl aus dem EU-Ausland nehmen Dienstleistungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat in Anspruch; somit liegt ein Fall der (passiven) Dienstleistungsfreiheit vor. Schon auf dieser Grundlage können sich die Touristen auf die Grundrechte-Charta (GRC) berufen. Diese kennt in Art. 2 ein Recht auf Leben, das mit entsprechenden Schutzpflichten verbunden ist, ähnlich wie dies in Zusammenhang mit Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) außer Streit steht. Diese letztgenannte Bestimmung steht in Österreich in Verfassungsrang – wie die EMRK insgesamt – und müsste deshalb ohnehin von den Gerichten beachtet werden.

Ist aber einmal der Anwendungsbereich des EU-Rechts eröffnet, so stehen zusätzliche, besonders effiziente Schutzmechanismen zur Verfügung: Art. 47 der GRC verleiht nämlich einen wirksamen Zugang zu einem Gericht. Damit ist sichergestellt, dass sich die nationalen Gerichte auch konkret mit diesem Schutzanspruch auseinandersetzen müssen.

Sollten die nationalen Gerichte Zweifel hinsichtlich dieses individuellen Schutzanspruchs hegen, so müssen sie – spätestens in letzter Instanz – diese Fragen dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Eine unbegründete Nichtvorlage würde zu Staatshaftung führen.

Zahlreiche Vorteile

Die Aktivierung dieses EU-rechtlichen Prozessstrangs wäre mit zahlreichen Vorteilen verbunden – nicht nur für die Kläger, sondern für die Klärung grundlegender Rechtsfragen in Österreich und in der EU:

  • Sie würde zu einer (weiteren) Präzisierung der Reichweite des Schutzes des Lebens führen.
  • Sie würde dazu beitragen, Sensibilität für das Schutzpotenzial der GRC zu schaffen – ein ungemein wertvolles Instrument, das erheblich zur Rechtsstaatlichkeit in Europa beitragen kann, aber noch in vielem unbekannt zu sein scheint.
  • Weiters könnte dadurch die Reichweite des Individualrechtsschutzes nach Maßgabe des EU-Rechts geklärt werden.

Zumindest aber muss die Berufung auf das EU-Recht dazu führen, dass sich die nationalen Gerichte mit dem EU-Recht und insbesondere mit den materiellrechtlichen und den prozessrechtlichen Verbürgungen der GRC auseinandersetzen. Auf die diesbezügliche Argumentation kann man gespannt sein.

Totes Recht

Und sollte dies nicht geschehen, so wäre dies ein Fall für eine Staatshaftungsklage. Dieses wichtige Institut, eine notwendige Abrundung des europäischen Rechtsschutzinstrumentariums, wurde bisher kaum angewandt, ist totes Recht. Obwohl in allen EU-Lehrbüchern breit ausgeführt, ist eine Berufung darauf von den nationalen Gerichten stets an praktisch unüberwindbare Hürden geknüpft worden. Die EU-Kommission ist trotz dieses Rechtsschutzdefizits untätig geblieben.

Auch hier wäre dringender Handlungsbedarf gegeben: Die aktuell laufende "Konferenz über die Zukunft Europas" sollte überhaupt der Frage des Rechtsschutzes der Bürger zentrale Bedeutung einräumen. Von Ischgl könnte ein – diesmal positiver – Impuls dazu ausgehen.(Peter Hilpold, 11.10.2021)