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Sebastian Kurz tauscht Platz. Zumindest auf absehbare Zeit wird er nicht mehr auf der Regierungsbank als Bundeskanzler sitzen, sondern als Obmann des ÖVP-Parlamentsklubs von der ersten Reihe der Abgeordnetensitze im Hohen Haus aus das parlamentarische Wirken der Volkspartei dirigieren. Dieser Seitenwechsel von der Exekutive zur Legislative ist aber nicht bloß ein formaler und machtsymbolisch bedeutender.

Der Abgeordnete Kurz hat nämlich etwas, das der Kanzler Kurz nicht hatte: Immunität. Und die spielt mit Blick auf die laufenden Strafverfahren gegen ihn – neben den Korruptionsermittlungen läuft noch eines wegen des Verdachts der Falschaussage im U-Ausschuss – eine wichtige Rolle. Welche Auswirkungen hätte der neue Status als ÖVP-Klubchef bzw. Parlamentarier auf die Causa prima, die die Rochade überhaupt erst erzwungen hat? Wäre Kurz dann "sicher"? Oder bräche der Noch-Regierungschef mit seiner "Flucht in die parlamentarische Immunität" im Nationalrat, wie FPÖ-Chef Herbert Kickl sagte, sein Versprechen, für rasche Aufklärung zu sorgen?

DER STANDARD beantwortet mit verfassungsjuristischer (Heinz Mayer, Theo Öhlinger, Peter Bußjäger) und parlamentarischer Expertise (Werner Zögernitz) die wichtigsten Fragen zum Thema politische Immunität.

Frage: Was versteht man eigentlich unter "Immunität" im politischen Zusammenhang?

Antwort: Es gibt drei Formen, die in der Bundesverfassung und in der Geschäftsordnung des Nationalrats verankert sind: die berufliche, die außerberufliche und die sachliche Immunität. Demnach können Abgeordnete wegen der in Ausübung ihres Berufs geschehenen Abstimmungen niemals verantwortlich gemacht werden. Das dürfen sie wegen der in diesem Beruf gemachten mündlichen oder schriftlichen Äußerungen nur vom Nationalrat ("berufliche Immunität"); allerdings gilt das nicht im Fall von Verleumdung oder bei einem strafbaren Verstoß gegen das Informationsordnungsgesetz.

Weiters dürfen Mandatare wegen einer strafbaren Handlung – sofern sie nicht auf frischer Tat ertappt werden – nur mit Zustimmung des Nationalrats verhaftet werden. Ansonsten dürfen sie ohne Zustimmung des Nationalrats nur dann behördlich verfolgt werden, wenn die strafbare Handlung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit des Abgeordneten steht ("außerberufliche Immunität"). Die "sachliche Immunität" wiederum gewährleistet, dass wahrheitsgetreue Berichte über die Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Nationalrats und Bundesrats und ihrer Ausschüsse sowie der Bundesversammlung "von jeder Verantwortung frei" bleiben.

Frage: Wenn Kurz demnächst in den Nationalrat wechselt, wäre er dann politisch immun?

Antwort: Eindeutige Antwort: Ja. Er hat, da er als ÖVP-Spitzenkandidat bei der Wahl angetreten ist und gewählt wurde, Anspruch auf ein Nationalratsmandat – und damit natürlich auf die damit verbundene Immunität.

Frage: Was bedeutet das für das laufende Strafverfahren der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) gegen Kurz und einige enge Mitarbeiter von ihm? Können die Behörden ungehindert weiterermitteln?

Antwort: "Die Immunität ist ein Verfolgungshindernis, aber kein Strafausschließungsgrund", erklärt Verfassungsjurist Heinz Mayer: "Das laufende Verfahren gegen ihn könnte für die Dauer der Zeit als Abgeordneter nicht fortgeführt werden." Die Verfahren gegen alle anderen Beteiligten in der Causa können, da sie keine Abgeordneten sind, plangemäß weiterlaufen. Auch Verfassungsjurist Theo Öhlinger sagt, dass Kurz’ künftige Abgeordnetenimmunität "auch für Taten gilt, die vorher gesetzt wurden und die im Zusammenhang mit seiner politischen Tätigkeit gestanden sind."

Staatsrechtsprofessor Peter Bußjäger erklärte auf Twitter mit Verweis auf die Strafprozessordnung: "Im Wiener Kommentar zur StPO wird jedenfalls auch die Auffassung vertreten, dass es nur ,auf den Zeitpunkt der Verfolgungshandlung und nicht etwa auf den Tatzeitpunkt oder den Beginn der Verfolgung‘ ankommt." Die Ermittlungen gegen Kurz (aber nicht gegen andere Beschuldigte) hätten also "so lange zu ruhen, bis der Nationalrat die Zustimmung zur behördlichen Verfolgung erteilt hat". Kurz hat laut ÖVP-Klub aber vor, um die Aufhebung seiner Immunität anzusuchen.

Frage: Was sagt der grüne Koalitionspartner zu Kurz’ Immunitätsverzichtsankündigung?

Antwort: Die grüne Klubobfrau Sigi Maurer sagte zu Kurz’ Ankündigung, auf seine Immunität verzichten zu wollen, damit die WKStA weiterermitteln könne, dies sei "kein Gnadenakt" der ÖVP. Denn dazu brauche es einen Auslieferungsantrag der Staatsanwaltschaft, über den der Nationalrat entscheide. Das sei eine Rechtsfrage und keine politische Frage.

Frage: Wie ist der Ablauf bei Aufhebung der Immunität eines oder einer Abgeordneten?

Antwort: Zuerst liegt der Ball bei der Strafverfolgungsbehörde, in dem Fall der WKStA. Sie muss einen Antrag auf Aufhebung der Immunität stellen. Dieser wird im Immunitätsausschuss "vorbereitet", erklärt Werner Zögernitz, Leiter des Instituts für Parlamentarismus und Demokratiefragen und früher langjähriger ÖVP-Klubdirektor: "Dann muss der Nationalrat binnen acht Wochen eine Entscheidung treffen, ob der oder die Betroffene ausgeliefert wird oder nicht. Es gibt dazu aber eine langjährige parlamentarische Praxis, wonach die Immunität nur für Tätigkeiten als Abgeordneter gewährt wird. Die inkriminierten Taten von Kurz waren aber vor seiner Zeit als Abgeordneter, die ja jetzt erst beginnt."

Zögernitz geht davon aus, dass Kurz "ausgeliefert", seine Immunität also aufgehoben wird, wenn ein entsprechender Antrag der Strafbehörden einlangt. Noch gibt es keinen. Rein formal könnte, sagt Zögernitz, die WKStA auch "von sich aus sagen, es besteht bei den Kurz vorgeworfenen Handlungen offensichtlich kein Zusammenhang mit der Tätigkeit als Abgeordneter, dann kann sie tätig werden. Ich gehe aber davon aus, dass sie ein Auslieferungsbegehren stellen wird, weil in diesem Fall alle auf Nummer sicher gehen wollen."

Frage: Sind solche Immunitätssachen im Parlament oft strittig oder meistens eindeutig?

Antwort: Es gebe dabei "selten Konfliktfälle", sagt Zögernitz: "Da ist man sich wirklich einig, dass Dinge, die vorher passiert sind, nicht mit der aktuellen, immunitätsgeschützten Abgeordnetentätigkeit zusammenhängen."

Frage: Wie lange könnten die Ermittlungen wegen Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit gegen Kurz und neun weitere Beschuldigte dauern, bis die WKStA entweder Anklage erhebt oder das Verfahren einstellt?

Antwort: Einige auf Wirtschaftsstrafsachen spezialisierte Rechtsanwälte, die die APA befragt hat, sind davon überzeugt, dass die Ermittlungen sich jedenfalls bis 2022 erstrecken werden. Die Rechtsmeinung der Experten setzt jedoch voraus, dass Sebastian Kurz wahrmacht, was er angekündigt hat – und nicht doch auf seine Immunität pochen wird. (Lisa Nimmervoll, 11.10.2021)