Julian Nida-Rümelin gilt seit Jahren als Vordenker der deutschen Sozialdemokratie und als prominente Stimme für angewandte Ethik. In der Corona-Krise hat sich der Münchner Philosoph auch mit Kritik an der Regierungskritik zu Wort gemeldet.

Philosoph und Ethiker Julian Nida-Rümelin: "Es hat sich in der Corona-Krise die Vorstellung breitgemacht, dass der Staat für unsere Gesundheit verantwortlich ist. Das ist hochgefährlich."
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STANDARD: In Deutschland steht eine Ampelkoalition vor der Tür. Kann aus dem Bündnis von SPD, Grünen und FDP etwas Neues entstehen oder nur der kleinstmögliche Kompromiss?

Nida-Rümelin: Viele haben noch gar nicht verstanden, was für eine Veränderung dieses Wahlergebnis darstellt. 20 Jahre lang hatten wir die Erwartung, dass Grüne und Union zusammengehen, die Versöhnung der rebellischen Kinder mit ihren konservativen Eltern aus bürgerlichem Milieu. Die Grünen wollten die führende Kraft der linken Mitte werden. Das ist nicht aufgegangen. Die Sozialdemokratie hat sich behauptet und die Grünen sogar deklassiert.

STANDARD: Was bedeutet das für die kommende Koalition?

Nida-Rümelin: Es gibt zwei natürliche Koalitionen, Schwarz-Gelb und Rot-Grün. Doch keine hat eine Mehrheit und wird auch wohl nie wieder eine haben. Daher braucht es neue Formationen. Ich erwarte eine Koalition der SPD mit Grünen und Liberalen. Die FDP hat tiefe Konflikte mit beiden Partnern, in der Sozialpolitik mit der SPD, in der Energiepolitik mit den Grünen. Aber es gibt auch einen nie ausgetragenen Konflikt innerhalb der SPD, zwischen Links-Keynesianern, die mit massiver Staatsverschuldung Investitionen ankurbeln wollen, und einer einflussreichen Minderheit, die eine Modernisierung ohne neue Schulden vorantreiben will. Zu ihr zählt Olaf Scholz. Dieser Konflikt wird durch die Koalition mit der FDP gelöst, denn mit ihr ist eine massive Ausweitung der Staatsschulden nicht zu machen. Und auch die Grünen müssen ihre energie- und umweltpolitischen Ziele anders verfolgen als geplant, nicht durch Steuererhöhungen.

STANDARD: Und zwar wie?

Nida-Rümelin: Sie müssen stärker auf Technologieoffenheit und Dynamik der Märkte setzen. Über das Ziel der Nachhaltigkeit herrscht ja Einigkeit, die Frage ist nur der Weg.

STANDARD: Aber ist nicht die FDP gespalten in der Klimapolitik – zwischen den Ökonomen, die hohe CO2-Preise fordern, und den Vertretern der Wirtschaft, die das ablehnt?

Nida-Rümelin: Ja, da laufen ökonomische Expertise und Interessen tatsächlich auseinander. Aber ich glaube, dass die FDP hier beweglich ist und keine bloße Klientelpolitik betreiben wird. Auch Teile der Industrie fordern inzwischen deutlich höhere CO2-Preise. Die Frage ist, ob die SPD beweglich ist, denn was die Ökonomie fordert, ist sozialpolitisch problematisch. Da geht es um die Lebensformen ihrer Kernwählerschaft, die sich nicht mal eben einen Tesla kaufen kann und oft weite Strecke zum Arbeitsplatz zurücklegen muss. Wenn die drei Parteien klug sind, dann verzichten sie diesmal auf ein detailliertes Koalitionsabkommen und verständigen sich auf Ziele und Hauptprojekte.

STANDARD: In Österreich konnten sich die Grünen gegenüber der ÖVP kaum durchsetzen, die Klimapolitik bleibt halbherzig. Ist dies auch in Deutschland zu erwarten?

Nida-Rümelin: Das wird nicht passieren. Die Grünen sind mit 14 Prozent eine Macht, sie machen dieses Spiel nicht mit – und noch wichtiger: SPD und FDP nehmen Klimaschutz unterdessen sehr ernst.

STANDARD: Also wird Deutschland zum klimapolitischen Vorreiter?

Nida-Rümelin: Ich hoffe es. Aber wir haben im Wahlkampf auch ein neues Phänomen erlebt, den Klimanationalismus. Nach den Überschwemmungen im Ahrtal hieß es: Hätten wir frühzeitig gehandelt, dann wäre das nicht passiert. Aber deutsche Klimapolitik kann auf sich gestellt den Klimawandel nicht aufhalten, sondern nur bestimmte Folgen in Deutschland abmildern.

STANDARD: Was ist die Alternative?

Nida-Rümelin: Wir brauchen einerseits eine globale Strategie, die auch die nationalen Maßnahmen bestimmt, und müssen uns andererseits darauf einstellen, dass es den Klimawandel gibt. Dafür braucht es eine positive Vision, wie wir in Zukunft leben wollen. Im Augenblick versuchen wir, mit Katastrophenszenarios Politik zu machen, mit der Botschaft: Meine Kinder sind dazu verdammt, in einigen Jahrzehnten zu sterben, wenn es so weitergeht. Diese strategische Kommunikation ist problematisch.

STANDARD: Bei der Wahl in Deutschland wurde die Mitte gestärkt, der linke und rechte Rand verlor. Können andere Staaten von Deutschland im Umgang mit Populismus etwas lernen?

Nida-Rümelin: Ja, ich denke schon. Sachlichkeit hilft. Mir scheint, der Höhepunkt der populistischen Erfolge ist generell überschritten. Da hat auch die Corona-Krise eine Rolle gespielt. Das hat zwar eine Minderheit radikalisiert, aber die Mehrheit will seriöse Antworten. In Frankreich ist der populistische Peak überschritten. In den USA war die Bedrohung der Demokratie beim Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner auf ihrem Höhepunkt. Wenn Joe Biden eine halbwegs kluge Politik macht, dann wird auch diese Gefahr gebannt.

STANDARD. Aber weltweit sind autoritäre Herrscher auf dem Vormarsch, von China bis Lateinamerika. Verlieren die demokratischen Ideale, die Europa so hoch hängt, an Kraft?

Nida-Rümelin: Wenn man in der Welt fragt, wo die Menschen am liebsten leben wollen, dann sagen zwei Drittel: in Europa. Nicht in China oder Belarus. Das hängt damit zusammen, dass dieser Kontinent eine Balance geschaffen hat zwischen ökonomischer Rationalität, sozialer Verantwortung sowie kultureller Vielfalt und Praxis, besser auch als die USA. Das macht die Strahlkraft Europas aus. Aber wenn Europa zwischen die Mühlsteine China und USA gerät, dann hilft auch diese Strahlkraft nicht. Deshalb muss Europa geeint auftreten.

STANDARD: Doch auch in Europa wächst der Nationalismus und damit der Widerstand gegen die EU.

Nida-Rümelin: Das sehe ich nicht. Die Unterstützung für Europa hat zugenommen, vor allem unter jungen Leuten. Aber sie wollen kein abgehobenes Europa, sondern eine vitale Demokratie. Es gibt ein Unbehagen mit der jetzigen Aufstellung der EU, und dieses Unbehagen teile ich.

STANDARD: Die große aktuelle Herausforderung bleibt die Corona-Pandemie. In Deutschland wie in Österreich könnte die Krise vorbei sein, wenn sich mehr Menschen impfen lassen. Wie soll eine Gesellschaft, die individuelle Freiheit und Solidarität hochhält, damit umgehen?

Nida-Rümelin: Lange hieß es, wir müssen Herdenimmunität erreichen. Aber das wird uns nicht gelingen. Heißt das, dass wir ewig mit Maßnahmen leben müssen? Nein. Wir haben die Älteren geschützt, und die Jungen müssen sich nicht fürchten. In dem Moment, in dem die Last dieser Krankheit geringer ist als etwa die einer saisonalen Grippe, gibt es keinen Grund mehr, Corona anders zu behandeln. Vieles deutet darauf hin, dass wir ganz nah an diesem Zustand sind.

STANDARD: Sollte mehr Druck zum Impfen ausgeübt werden, etwa durch eine indirekte Impfpflicht?

Nida-Rümelin: Massive Benachteiligungen für Ungeimpfte sind nicht klug. 2G-Regeln führen zu einer unnötigen Stresssituation in der Gesellschaft. Wir haben uns anfangs gegen eine Impfpflicht entschieden und sollten die jetzt nicht durch die Hintertür einführen. Eine Impfpflicht ist sinnvoll in den Krankenhäusern, denn dort hat man mit vulnerablen Menschen zu tun. Aber nicht in den Schulen, denn die Kinder sind am wenigsten gefährdet.

STANDARD: Welche Lehren ziehen Sie aus der Corona-Krise?

Nida-Rümelin: Sie war sicher ein Stresstest für die demokratischen Institutionen, die diese in Deutschland nicht gut bestanden haben. Die Ministerpräsidentenkonferenz ist nicht der von der Verfassung vorgesehene Ort, um existenzielle Entscheidungen für die Nation zu treffen, das wären die Parlamente im Bund und den Ländern. Die Krise zwingt uns auch, die Grenzen der Staatstätigkeit genauer zu bestimmen. Es hat sich die Vorstellung breitgemacht, dass der Staat für unsere Gesundheit verantwortlich ist. Das ist hochgefährlich, denn es würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass Alkohol oder Risikosportarten verboten werden können und massive Eingriffe in die persönliche Freiheit als zulässig gelten. Gerade hat ein Gericht entschieden, dass die Lockdown-Maßnahmen in Bayern in der ersten Welle unverhältnismäßig, also unzulässig waren.

STANDARD: Und was hat die Pandemie mit unserer Gesellschaft gemacht? Hat sie uns gespalten oder Menschen zusammengeführt?

Nida-Rümelin: Es wurden die Finger auf bestimmte Wunden gelegt – auf inakzeptable Arbeitsverhältnisse, etwa in Schlachthöfen, oder auf die schlecht bezahlten Pflegeberufe im Gesundheitswesen. Dank staatlicher Hilfen haben viele die Maßnahmen gut wegstecken können, aber es gab auch Menschen, die ihre Existenz verloren haben. Corona hat uns gezwungen, genauer hinzuschauen. Das ist sicher auch ein Grund, warum soziale Gerechtigkeit als Thema wichtiger geworden ist. (INTERVIEW: Eric Frey, 12.10.2021)