Die rechtsnationalistische polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat mit sofortiger lauter Rückendeckung durch den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán einen zentralen Grundsatz der Europäischen Union – den Vorrang des EU-Rechtes vor nationalem Recht – offen infrage gestellt.

Die einhellig empörte Reaktion in Brüssel und erst recht die der Zivilgesellschaft in Polen zeigen, dass es sich hier nicht um die Verteidigung von abstrakten "europäischen Werten" handelt, sondern um einen waghalsigen Vorstoß gegen die Funktionsfähigkeit der politischen Gemeinschaft der EU-Staaten und für einen Freibrief für den totalen Abbau der Rechtsstaatlichkeit durch die Autokraten Jarosław Kaczyński und Viktor Orbán.

Protestierende in Polen nach einem umstrittenen Urteil des Verfassungsgerichts.
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Was können die EU-Institutionen gegen dieses Bündnis der chronischen Störenfriede unternehmen? Ein Mitgliedsstaat kann sogar wegen der systematischen Gefährdung der Grundrechte nicht ausgeschlossen, sondern erst am Ende eines langen Vertragsverletzungsverfahrens mit dem Verlust des Stimmrechtes bestraft werden. Die Orbán-Regierung hatte übrigens schon vor Jahren ein Veto im Falle einer solchen Sanktion gegen Polen angekündigt. In Brüssel, und nicht nur dort, wird bereits offen über finanzielle Strafmaßnahmen gegen die beiden Regierungen diskutiert.

Polen und Ungarn gehören zu den größten Nutznießern der Förderung aus den EU-Transformationsfonds und der Zuschüsse aus dem EU-Corona-Hilfstopf. Im Sinne des neuen Rechtsstaatenmechanismus können Zahlungen aus den Strukturfonds zurückgehalten und Zuschüsse verweigert werden, wenn die Forderungen der EU-Kommission und des obersten EU-Justizorgans nach Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung nicht beachtet werden.

Entschlossenes Auftreten

Bereits vor den jüngsten Turbulenzen hat der angesehene Princeton-Politologe Jan Werner Müller vor Toleranz, Dialog und Kompromiss gegenüber Kaczyński und Orbán als "fatal falsch" gewarnt (Süddeutsche Zeitung, 3. 9.). Die Furcht, entschlossenes Auftreten würde eine nationalistische Gegenreaktion auslösen, sei unbegründet. Europa bleibe laut allen Umfragen weiterhin populär in beiden Ländern, und das Geld aus Brüssel lande ohnehin eher bei den Spezis der Regierung, zumindest in Orbáns Kleptokratie, meint Müller zu Recht.

Die Herausforderung des demokratischen Europa durch die polnischen und ungarischen Machthaber könnte eine Existenzkrise der EU auslösen. Unter der wackligen Koalitionsregierung Janez Janša gilt Slowenien, der einstige Musterknabe im Osten, als verlässlicher Partner und der ums Überleben kämpfende tschechischer Premier Andrej Babiš als "aufrichtiger Freund" Orbáns. Der Konfrontationskurs gegen Brüssel entwickelt eine schwer kontrollierbare Eigendynamik.

Die Erfahrungen der EU in den letzten Jahren liefern unbestreitbare Beweise dafür, dass die Verteidigung der liberalen Demokratie endlich Taten und nicht wolkige Phrasen über "Dialogbereitschaft" erfordert. Auch der Ausgang der von den Nachbarn aufmerksam verfolgten österreichischen Regierungskrise zeigt die enorme Bedeutung eines intakten Rechtsstaates mit unabhängigen Staatsanwälten und Gerichten. (Paul Lendvai, 12.10.2021)