Der Oktober ist durchgetaktet, von Anfang bis Ende. Gestern Padua und Maastricht, morgen dann Wien-Simmering. Für zwei Tage schlägt Vino Kilo in der "Simm City" auf. Das Mainzer Unternehmen ist ein moderner Wanderzirkus, ständig auf Achse. Am Mittwoch und Donnerstag wird er das Festsaalzentrum im 11. Bezirk in eine bunte Kleiderkammer mit DJ-Pult verwandeln. Verkauft werden Ballonseide und Lederjacken, Cardigans und Leggings.

Wie auf einem Wiener Pfarrflohmarkt geht es hier nicht zu. Ewig suchen und wühlen muss niemand. Die Ware ist vorsortiert, gewaschen und repariert, das Sortiment zugeschnitten auf die modischen Bedürfnisse einer großteils jungen Kundschaft, viele Stücke stammen aus den Achtziger- und Neunzigerjahren: Die Generation, die hier einkauft, will so aussehen wie ihre Eltern auf den verblitzten Fotos von früher. Und sie möchte beim Shoppen kein schlechtes Gewissen haben.

Vintage gilt heute als attraktive Alternative zu Fast Fashion. Kein Wunder, dass das Interesse an Secondhandmode zugenommen hat. Das Thema ist mittlerweile im Mainstream wie im Luxussegment angekommen. Das war selbst während der Mailänder Modewoche zu beobachten. Dort stellte das italienische Modehaus Gucci mit großem Tamtam seine neue Onlineplattform Vault vor. Über sie werden ausgewählte Vintage-Stücke der Marke verkauft. Auch sonst tut sich was. Der Konzern Kering ist seit Anfang dieses Jahres am Onlineshop Vestiare Collective beteiligt, Magazine wie "More Or Less" oder "Display Copy" stylen Modestrecken mit Vintagemode, selbst Influencerinnen predigen, gebrauchte Kleidung zu kaufen.

Vintage ist schick geworden

Vor fünf Jahren begann der Mainzer Robin Balser, Secondhandmode zu verkaufen. Sein Unternehmen Vino Kilo ist seither wie ein moderner Wanderzirkus ständig auf Achse.
Foto: Vino Kilo

Weil Vintage schick geworden ist, haben die Preise angezogen. Die Gentrifizierung des Secondhandmarktes wird immer wieder kritisiert: Bleibt den Menschen mit geringem Einkommen das Nachsehen? Auch Vino Kilo profitiert von der zunehmenden Nachfrage einer hippen, oft großstädtischen Klientel nach nachhaltigerem Konsum. Das Konzept der Pop-ups: Hier zahlt man nicht pro Kleidungsstück, sondern nach Gewicht. Rund 40 Euro kostet ein Kilo Kleidung, so viel wiegt in etwa eine Jeansjacke. Das Kilokonzept mag zwar zu "mehr Konsum" motivieren, seinem Erfolg hat das aber bislang keinen Abbruch getan. Das Start-up aus Bodenheim in der Nähe von Mainz gehört zu den umtriebigsten Anbietern für Vintage- und Secondhandmode in Europa. Die Verkäufe finden mittlerweile in mehreren Städten parallel statt, bis zu sechs Events stellt das Unternehmen an einem Wochenende auf die Beine.

85 Menschen arbeiten für Vino Kilo, dessen Lager sich in Bodenheim befindet. Am ehemaligen Standort des Spirituosenherstellers Kümmerling lagern auf 5500 Quadratmetern 250 Tonnen Secondhandware. Das sind rund 660.000 Kleidungsstücke. Zwar wird die Mode aus zweiter Hand mittlerweile auch über einen Webshop vertrieben, 85 Prozent des Umsatzes aber generiert man mit dem Wanderzirkus.

Immer auf Achse

Vier Tage benötigt das Team für die Organisation eines solchen Events, das Sortiment wird mithilfe von Packlisten auf den Geschmack der jeweiligen Städte angepasst (für Wien werden mehr Wachsjacken und klassische Pullover mitgenommen) und mit einem Transporter ans Ziel bugsiert. Mindestens 600 Kilo Kleidung müssen verkauft werden, damit sich der logistische Aufwand lohnt. Beworben werden die Events auf Instagram, dort hat das "Vintagewonderland Vino Kilo" 154.000 Abonnenten.

Dabei liegt dessen Gründung noch nicht allzu weit zurück. 2016 veranstaltete man das erste Event, seither wurden 379.000 Kilo Kleidung verkauft, Vino Kilo will kein "schmuddeliger Vintageladen" und dezidiert kein Nischenprojekt sein. Der Mann, der mit seiner Unternehmung einen Riecher für den Zeitgeist bewiesen hat, heißt Robin Balser. Im vergangenen Jahr landete er auf der Forbes-Liste der 30 einflussreichsten "sozialen Unternehmer" unter 30 in Europa. Noch dazu weiß er sich zu inszenieren. Balser sieht ein bisschen wie der junge Thomas Gottschalk aus. Blonde Locken, wilde Outfits, der Deutsche trägt, was er verkauft: alles Vintage, je bunter, desto besser.

Teil seiner Erfolgsgeschichte ist auch, dass er mit dieser nicht hinterm Berg hält. So schwer Balser in diesen Tagen am Telefon zu erreichen ist, interviewt wird er regelmäßig. "Wenn man bei uns einkauft, ist das eine Experience", erklärt er gern. Der Mainzer denkt lieber groß als klein, in der Vergangenheit hat er Sachen gesagt wie "Vino Kilo solle der H&M für Secondhand-Mode werden."

Drei von sechs Filialen des Innsbrucker Nowhere Store setzen auf Kilo-Verkäufe.
Foto: Nowhere Vintage

Er ist mit seinem Konzept allerdings nicht allein auf weiter Flur. Auch in Österreich setzen Veranstalter auf Vintage-Kilo-Sales. Laurin Strele Pupp vom Innsbrucker Nowhere Store hat 2013 noch T-Shirts und Taschen mit Sprüchen ("Es keat oanfach viel mehr gschmust") bedruckt, heute führt er mit zwei Partnern Vintage-Stores in Linz, Bozen, Innsbruck und Feldkirch. In drei von sechs Shops wird die Ware kiloweise verkauft, 30 Mitarbeiter hat das Unternehmen heute. Daneben veranstaltet man Kilo-Sales, zuletzt in Prag und am vergangenen Wochenende im Volxhaus in Klagenfurt. Hier kostet ein Kilo Kleidung 30 Euro. Insgesamt verkaufen Laurin Strele Pupp und seine Mitstreiter im Monat rund fünf Tonnen Kleidung.

Vereinfachte Logistik

Doch warum ist das Kilokonzept so reizvoll für das Unternehmen? "Die Einfachheit" sei ein Grund, sagt Strele Pupp: "Alles kostet gleich viel. Egal ob Markenteil oder No-Name-Produkt. So erspare man sich den Prozess des Bepreisens und Etikettierens, auch die Lagerführung, Logistik und Warenwirtschaft werde stark vereinfacht.

Lässt sich mit Secondhand etwa eine goldene Nase verdienen? "Es ist billiger, Fast Fashion zu produzieren, als Brauchbares aus den Bergen an weggeworfener Kleidung herauszusuchen und aufzubereiten", meint Robin Balser. Wie er an seinen Rohstoff, die Kleidung aus zweiter Hand, kommt? Der Deutsche kooperiert mit einem Partner, der in Amsterdam sitzt. Er klappert in Europa die Sortierer von Kleidungsmüll ab und sucht aus den Bergen an Weggeworfenem gemäß den Kriterien des Unternehmens Brauchbares heraus. Die Stücke werden dann gereinigt, repariert und kategorisiert nach Bodenheim geschickt. Zu 95 Prozent, sagt der Unternehmer, komme die Kleidung aus Europa.

So wie die Wachsjacken, die nun nach Wien-Simmering geschickt werden. Ob das österreichische Publikum sie annimmt, wird Balser sehr genau beobachten. (Anne Feldkamp, 12.10.2021)