Ein Zapfen, ein Stein, eine Kastanie und der Deckel eines Marmeladenglases. Daneben eine Schüssel mit Wasser. Das sind die Utensilien, die Susanne und Alexandra, beide fünf Jahre alt, zur Verfügung stehen, um ihre heutige Aufgabe zu lösen: Es gilt herauszufinden, welche der Gegenstände an der Wasseroberfläche schwimmen und welche untergehen. Die beiden Mädchen absolvieren ihr letztes Jahr im Kindergarten. Um auf die Schule vorbereitet zu werden, bekommen sie jeden Tag eine Übung am sogenannten Lerntablett serviert. Sie meistern sie auch dieses Mal wieder mit Bravour. Angeleitet werden sie von Pädagogin Evamaria. Sie widmet sich den wissbegierigen Vorschulkindern – und muss gleichzeitig den quengelnden Georgio Antonio im Arm halten. Der Einjährige besucht die Einrichtung erst seit kurzem und braucht den Körperkontakt zu seiner Betreuerin hier im Betriebskindergarten der Technischen Universität Wien im vierten Bezirk. Sonst weint er, weil er sich an die Trennung von seinen Eltern erst gewöhnen muss.

Vorbereitung auf die Schule: Die 5-Jährigen lösen täglich Aufgaben.
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Der Kindergarten wird vom privaten Träger Kiwi (Kinder in Wien) geführt. DER STANDARD ist zu Besuch, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Denn wie andere Kindergärten privater Träger in Wien lassen auch die Kiwi-Kindergärten derzeit mit einem Hilfeschrei von sich hören. Heute, Dienstag, bleiben die Einrichtungen bis 12.30 Uhr geschlossen. Die Pädagoginnen halten eine Versammlung im Votivpark ab, um auf ihre prekäre Situation hinzuweisen.

Zu wenige bleiben im Job

Claudia Unger, Betriebsrätin und pädagogische Leiterin der Einrichtung in der Wiedner Hauptstraße, führt durch die Gruppenräume. Dem unermüdlichen Einsatz der Pädagoginnen – in ihrem Haus sind bis auf einen Zivildiener ausschließlich Frauen beschäftigt – sei es zu verdanken, dass das System noch nicht kollabiert sei, findet sie drastische Worte für die Situation in den Bildungseinrichtungen für die Allerkleinsten. Doch wo hakt es? Warum sehen sich die Pädagoginnen dazu gezwungen, auf die Straße zu gehen? Zum einen fehle es an Personal. Absolventinnen der Bildungsanstalten für Elementarpädagogik entscheiden sich oft bereits wenige Jahre nach dem Berufseinstieg dazu, einen anderen Karriereweg einzuschlagen. Oder sie beginnen erst gar nicht im Kindergarten zu arbeiten – weil sie nach der Matura lieber noch studieren. Fällt jemand aus, gibt es kaum Springerinnen, die in die Einrichtung kommen können.

Fundament wichtig

Weiters verzeichnet Unger auf der Mängelliste: zu geringe oder fehlende Vorbereitungszeit, zu große Gruppengrößen sowie zu wenig Unterstützungspersonal wie etwa Sprachförderkräfte oder Entwicklungspsychologinnen. "Es gibt Mitarbeiterinnen, die dann schweren Herzens den Hut draufhauen, weil sie die Art, wie sie arbeiten müssen, nicht mehr mit sich selbst vereinbaren können", sagt die Kindergartenleiterin. Bei Entwicklungsdefiziten reiche es nicht, diese zu bemerken – Kinder müssten dann auch gefördert werden. In der Praxis sei dies aber viel zu oft nicht zu bewerkstelligen. Dabei habe jedes Kind die beste Förderung verdient. Setze man bei den Allerkleinsten an, erspare man sich auch später viele Probleme, ist Unger überzeugt. Sie zieht einen Vergleich mit dem Hausbauen, wo es auch essenziell sei, für ein gutes Fundament zu sorgen.

Neben Kiwi sind auch die privaten Träger Diakonie, Kinderfreunde und St. Nikolausstiftung am heutigen Protesttag beteiligt. Sie treten gemeinsam als "Netzwerk Träger*inneninitiative Elementare Bildung in Wien" auf. Hunderte Gruppen bleiben geschlossen, betroffen sind zehntausende Kinder. Eltern solidarisieren sich weitgehend mit den Anliegen der Pädagoginnen, sagt Unger. Im Endeffekt seien ja die Kinder die Leidtragenden, ihnen gegenüber fehle jede Wertschätzung der politisch Verantwortlichen.

Claudia Unger setzt sich als Kindergartenleiterin und Betriebsrätin für bessere Arbeitsbedingungen ein.
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Doch nicht nur aufschreien will das Bildungspersonal an jenem Tag, es gibt konkrete Forderungen, die es an die Politik stellt. Das Budget für Elementarpädagogik soll künftig mindestens ein Prozent des BIPs ausmachen (bisher 0,64 Prozent). Zudem müsse eine Ausbildungsoffensive gestartet werden. Gefordert wird ein Stufenplan für die Reduzierung der Gruppengrößen. So sollen drei- bis sechsjährige Kinder in einem Schlüssel von 1:7 betreut werden – sprich eine Pädagogin kümmert sich um maximal sieben Kinder. Derzeit ist ein Schlüssel von 1:15 vorgesehen. Außerdem fordert das Bildungspersonal die Gleichstellung öffentlicher und privater Betreiber. Das ist derzeit nicht der Fall, Eltern müssen für die Betreuung ihrer Kinder in privaten Einrichtungen deshalb höhere Beiträge zahlen als in städtischen Kindergärten. Diese Parallelstruktur schlägt sich auch beim Protest nieder. Während das Personal privater Einrichtung heute, Dienstag, auf die Straße geht, ist ein Protest der städtischen Pädagoginnen für Donnerstag angesetzt.

Unterstützt werden die Aktionen von Educare, einem Verein zur Förderung der Elementarbildung. Eine der Wurzeln des Problems sieht Geschäftsführerin Viktoria Miffek darin, dass die Kindergärten Ländersache sind und daher von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Regelungen gelten. "Wir sagen seit zehn Jahren, dass es ein Bundesrahmengesetz geben müsste", sagt sie zum STANDARD. Es könne nicht sein, dass es Unterschiede gibt, ob mein Kind in der Steiermark oder in Wien in den Kindergarten gehe. Wie bei den Volksschulen müsse nicht nur die Ausbildung der Pädagoginnen einheitlich geregelt sein, sondern auch die Gruppengröße, Schließtage, Vorbereitungszeit oder das Gehalt des Personals.

Wer ist zuständig für die Kindergärten? Bund und Länder schieben sich die Verantwortung zu.
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Miffek sieht derzeit ein Zeitfenster zugunsten der Umsetzung der Vereinheitlichung. Soeben werden die Gespräche für eine neue 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern aufgenommen (siehe Wissen). Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) nennt als Ziel, den herrschenden "Fleckerlteppich zu homologisieren". Als künftige Schwerpunkte werden flexiblere Öffnungszeiten sowie die Schaffung von zusätzlichen Plätzen für unter Dreijährige genannt.

Das sind auch Forderungen, die die Sozialpartner erheben. Am Montag forderten sie zudem einen Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz ab dem ersten Geburtstag. Die Stadt Wien kündigte einen Tag vor der Kundgebung an, die Assistenzstunden von derzeit 20 auf 40 Stunden ab September 2022 zu verdoppeln.

Bund soll koordinieren

Für eine bessere Koordinierung zwischen Bund und Ländern spricht sich Karoline Mitterer vom Zentrum für Verwaltungsforschung (KDZ) aus. Ähnlich wie im Gesundheitsbereich brauche es auch bei den Kindergärten vom Bund aus Steuerung. In der Corona-Krise habe sich gezeigt, wie die Länder "im Stich gelassen" würden. Für Schulen habe es Vorgaben gegeben, die Kindergärten habe man nicht im Fokus gehabt.

Claudia Unger vom Kindergarten in der Wiedner Hauptstraße sieht es so: Die Pandemie habe deutlich gemacht, woran es in den elementaren Bildungseinrichtungen tatsächlich hakt. Man habe davor schon jahrelang zugeschaut, durch die Krise seien die Probleme sichtbar geworden.

Das Gerangel ums Lieblingsbuch wird es in vielen Wiener Kindergärten am Dienstag nicht geben. Die Gruppen großer privater Träger sind geschlossen, weil die Pädagoginnen protestieren.
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In der Kindergartengruppe rangeln mittlerweile drei Kinder um ein Buch. Maxi, Kian und Isabella – jeder will es in Händen halten und die Bilder anschauen. Isabella setzt sich durch und verzieht sich allein an einen Lesetisch. Maxi und Kian bleibt nur, mit Dinosauriern zu spielen. Doch sie sind schnell wieder vergnügt, das Ringen um das Bilderbuch scheint vergessen.

Am Ende eine Lösung finden, die für alle Beteiligten passt? Das wäre auch ein schönes Ziel bei den Verhandlungen zur Zukunft der Kindergärten. "Wir sehen alles vom Blick des Kindes aus", erklärt Viktoria Miffek von Educare. In ihre Zukunft zu investieren zahle sich aber für die gesamte Gesellschaft aus. (Rosa Winkler-Hermaden, 12.10.2021)