Johannes Wesemann und Anwalt Wolfram Proksch reichen ihre Anzeige gegen Jair Bolsonaro beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ein.

Foto: AllRise

"Das ist erst der Anfang, wir haben sehr viel vor in Zukunft", sagt Johannes Wesemann. Der ehemalige Chef von Uber in Österreich und Unternehmer hat heute, Dienstag, bei einer Pressekonferenz seine neue Nonprofitorganisation All Rise vorgestellt. Mit im Gepäck hat Wesemann ein knapp 300 Seiten starkes Dokument: eine Anzeige gegen den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, die er tags zuvor am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingebracht hat.

Der Vorwurf: Bolsonaro habe mit seiner Regenwaldpolitik "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" begangen. Die Zerstörung des Amazonas durch die brasilianische Regierung verursache nicht nur lokal und regional große Schäden, sondern habe auch Auswirkungen auf das globale Klima und damit auf die gesamte Menschheit. Die Folgen seien die "Verwüstung ganzer Regionen, die millionenfache Vernichtung von Lebensgrundlagen, Hungersnöte, Flucht, Vertreibung und tausendfacher Tod".

180.000 Tote bis 2100

Wesemann fasst die Argumentation des 300-seitigen Dokuments prägnant zusammen: "Verbrechen gegen die Umwelt sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit." Die Anzeige solle einen Präzedenzfall schaffen, um Politikerinnen und Politiker, die gezielt und bewusst die Umwelt zerstören, zur Rechenschaft zu ziehen. Wesemann und seine Organisation All Rise bekommen dafür prominente Unterstützung von der Deutschen Umwelthilfe (DUH), die zuletzt die Verfassungsklage gegen das deutsche Klimaschutzgesetz gewann, und von Friederike Otto, einer der Hauptautorinnen des kürzlich publizierten Weltklimaberichts.

Mit ihrer Anzeige wollen die Aktivistinnen und Aktivisten den "bestehenden Rechtsrahmen ausschöpfen". Derzeit ist der Internationale Strafgerichtshof für Völkermord, Verbrechen der Aggression, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig. Die Politik Bolsonaros falle laut Wesemann unter Letzteres.

Berechnungen hätten ergeben, dass die von der brasilianischen Regierung vorangetriebene Abholzung bis 2100 weltweit mehr als 180.000 hitzebedingte Todesfälle verursachen wird, erklärt Rupert Stuart-Smith, Klimaforscher an der Universität Oxford. In den Jahren 2019 und 2020 sei der CO2-Ausstoß jeweils um fast die Hälfte gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Insgesamt sei die großflächige Abholzung des Regenwaldes für 20 Prozent der weltweiten Kohlenstoffemissionen verantwortlich.

Sascha Müller-Kraenner, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, verweist auf die Mitverantwortung Europas. Besonders problematisch sei die Produktion von Soja, die für die Massentierhaltung benötigt wird, und die Produktion von Leder für die deutsche Automobilindustrie.

Rechtlich schwierig

Anzeigen an den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof sind grundsätzlich möglich. Auch gegen Bolsonaro gab es schon mehrere davon, bisher allerdings ohne Erfolg. All Rise will mit seiner Anzeige nun eine "neue, ganzheitliche Perspektive" hinzufügen. "Indem wir zeigen, welche Auswirkungen sein Handeln auch auf die Umwelt, das Klima und die menschliche Gesundheit auf der ganzen Welt hat", sagt Wesemann. Maud Sarlieve, Anwältin für Menschenrechte und internationales Strafrecht, schließt sich an: "Es gibt klare und zwingende Gründe für die Annahme, dass in Brasilien Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden, die eine strafrechtliche Verfolgung erfordern."

Aus Sicht von Ralph Janik, Universitätslektor für Völkerrecht, dürfte diese Argumentation allerdings schwierig werden. Denn Umweltverbrechen seien schlicht nicht von den bestehenden Straftatbeständen erfasst. "Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind per definitionem ein weitreichender systematischer Angriff auf eine Zivilbevölkerung. Bei Umweltverbrechen ist das nicht der Fall", sagt Janik im Gespräch mit dem STANDARD.

Neuer Tatbestand?

Die Verfolgung eines "Ökozids" – gemeint ist die vorsätzliche Zerstörung von globalen Naturgütern – ist von den Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs also wohl nicht gedeckt. Bereits seit mehreren Jahren tritt daher eine wachsende Bewegung für die Schaffung eines neuen Straftatbestands ein. Zuletzt präsentierte die NGO Stop Ecocide International (SEI) einen entsprechenden Gesetzesentwurf. Für einen Statutenänderung bräuchte es den Vorschlag eines Vertragsstaats und die Zustimmung von zwei Dritteln der insgesamt 123 Mitgliedsländer. Staaten, die mit der Änderung nicht einverstanden sind, könnten aber vom Statut zurücktreten.

Wie der Internationale Strafgerichtshof mit der Anzeige von All Rise umgehen wird, bleibt abzuwarten. Erst dieses Jahr hatten Richter in Den Haag übrigens in einem Klimaverfahren für Aufsehen gesorgt – allerdings nicht am Strafgerichtshof, sondern am ansässigen Bezirksgericht. Sie verurteilten den Ölkonzern Shell nicht rechtskräftig zur drastischen Reduktion seiner Emissionen. (Jakob Pflügl, 12.10.2021)