Christian Kern sieht sich nicht um die Wahl betrogen, dazu habe er selbst zu viele Fehler gemacht. Aber er erhebt schwere Anschuldigungen gegen Sebastian Kurz.

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Der Hund bewacht Christian Kern während des Interviews. Das Gespräch findet in seinem Büro in Wien-Neubau statt.

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"Nach dieser Exzessphase des Rechtspopulismus und dieser Politik der Zuspitzung brauchen wir wieder eine Phase der gepflegten Langeweile, um die Köpfe wieder freizukriegen und diesen teilweise bis zum Hass gehenden Auseinandersetzungen Einhalt zu gebieten."

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Kern über die Inseratenvergabe der Bundesregierung: "Das ist so eine Geißel geworden, so ein Krebsgeschwür unserer Demokratie. Dass ich dieses System der Inseratenvergabe nicht entschlossener bekämpft habe, mache ich mir selber zum Vorwurf."

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STANDARD: Hatten Sie schon Kontakt mit Reinhold Mitterlehner?

Kern: Ja. Das war eine bemerkenswerte Zeit in unserem Leben, wir haben das schon ein paar Mal reflektiert. Der große Unterschied ist: Was wir erlebt haben, ist plötzlich für alle sichtbar. Das ist keine Genugtuung, muss ich sagen, am Ende ist das Schaudern doch größer, wenn du schwarz auf weiß noch einmal liest, was du erlebt hast. Ich finde das wirklich in höchstem Maße irritierend. Man kann jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen, und das geht über die Person von Sebastian Kurz hinaus.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Kern: Man sollte sich jetzt nicht von dieser Diskussion über die Umfragen beirren lassen, die sind der sichtbare Ausdruck des ganzen Problems. Aber das ist ja systematisch weitergegangen, das betrifft unser Mediensystem, das betrifft wesentliche Institutionen unseres Staates. Das wesentlichste Element unseres Staates sind freie und faire Wahlen. Und man kann heute im Rückblick sagen, dass das 2017 nicht der Fall gewesen ist, dass eine Partei auch doppelt so viel ausgegeben hat, als sie dürfte, dass öffentliche Mittel parteipolitisch eingesetzt worden sind und man sich damit einen Wettbewerbsvorteil verschafft hat. Das ist auch eine ungeheure Respektlosigkeit vor unserer Verfassung. Wenn ich mir diese Verästelung der Kurz-Truppen in Medien hinein anschaue: Es gibt einzelne Zeitungen, die waren Teil der Kampagne, die waren Teil des Kurz-Camps und haben sich auch so verhalten.

STANDARD: Geht das über die Zeitung "Österreich" hinaus?

Kern: Das war ganz klar die "Kronen Zeitung", das war die "Presse", das war später der "Kurier". Das muss man reflektieren. Das geht natürlich auch ganz tief in die Beamtenschaft hinein, man denke an die Generalsekretäre in den Ministerien oder die Causa Pilnacek. Aus alledem muss man die Konsequenzen ziehen. Ich gebe Herbert Kickl nicht in vielem recht, aber die türkisen Seilschaften im Innenministerium gibt es, die sind eine eigene Betrachtung wert.

STANDARD: Wie haben Sie das damals erlebt? In einem Chat ist nachvollziehbar, wie Sebastian Kurz und Thomas Schmid eine Einigung zwischen Ihnen und Reinhold Mitterlehner über 1,2 Milliarden Euro für Kinderbetreuung am Nachmittag torpediert haben. War Ihnen das bewusst?

Kern: Es war unglaublich zäh, mit der ÖVP zu Einigungen zu kommen. Wir haben lange Runden gehabt, die Ergebnisse sind dann wieder verworfen worden. Das, was wir hier erlebt haben, hat sich in vielen Fällen wiederholt. Das ist jetzt nur der sichtbare Teil. Wir haben das bei vielen Reformprojekten gespürt, die behindert worden sind. Eines der gravierendsten Beispiel war der Migrations- und Integrationsbereich. Uns war klar, wir müssen wesentlich mehr Anstrengungen unternehmen. Ich hatte vorgeschlagen, dass wir einen Integrationsbeauftragten benennen, der das managt: Christian Konrad, der ist eng mit der ÖVP verbunden, ehemaliger Raiffeisen-Manager. Mitterlehner war ganz angetan von der Idee, wir haben uns darauf verständigt, dass wir das tun wollen, aber das ist von Kurz und Sobotka (Wolfgang Sobotka, von April 2016 bis Dezember 2017 Innenminister, jetzt Nationalratspräsident, ÖVP, Anm.) radikal abgelehnt worden. Das ist deshalb so eine interessante Anekdote, weil es genau das beschreibt, was abgegangen ist: Kurz hat immer wieder den Stillstand und die Streitereien in der Regierung beklagt, die er jeden Tag herbeigeführt hat. Er hat überhaupt kein Interesse gehabt, dass die Integration funktioniert, weil er die Probleme gebraucht hat. Das war für ihn und seine Politik der Antrieb. Probleme in der Migrationsfrage, Probleme in der Regierung, davon hat er gelebt. Was unser Fehler war: Auf der SPÖ-Seite hat das zu einer enormen Emotionalisierung geführt. Wir haben die Erhöhung des Sebastian Kurz erlebt, und der Mann hat immer gesagt: Wir patzen niemanden an. Und wir haben jeden einzelnen Tag erlebt, der patzt permanent die Leute an und wirft mit Schlamm um sich.

STANDARD: Hat er das offen gemacht? Hat er im Ministerrat klar Stellung bezogen?

Kern: Nein, er ist nie aus der Deckung gekommen. Dazu hat er nicht das Rückgrat gehabt. Er hat immer darauf geachtet, dass die Schmutzarbeit ein anderer erledigt. Er hat die Sophie Karmasin (damals Familienministerin, Anm.), den Andrä Rupprechter (damals Landwirtschaftsminister, Anm.), auch den Hans Jörg Schelling (damals Finanzminister, Anm.) vorgeschickt. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum sich die dafür hergegeben haben. Das waren erwachsene Menschen. Der eine oder andere fühlt sich eh nicht ganz wohl in seiner Haut. Ich habe einige Entschuldigungen bekommen. Ich habe gefunden, man kann mit ein bisschen mehr Würde durchs Leben schreiten als der eine oder andere, der seine Karriere an den Kurz gebunden hat. Das Bizarre ist ja: Kurz hat die reihenweise auch abserviert, er hat seine eigenen Leute vor den Bus geworfen, weil er gefunden hat, sie sind ihm jetzt nicht mehr nützlich.

STANDARD: Sie haben auch Wolfgang Sobotka erwähnt, damals Innenminister, heute ist er Nationalratspräsident und bekleidet damit eines der allerhöchsten Ämter in der Republik. Der war damals als Sprengmeister recht aktiv, oder?

Kern: Sobotka war die Abrissbirne dieser Regierungszusammenarbeit. Dass man gefunden hat, das qualifiziert ihn, das Amt des Nationalratspräsidenten auszuüben, hat mich doch einigermaßen gewundert.

STANDARD: Sie haben die Inseratenvergabe schon angesprochen. Wollte man das nicht auch reformieren? Können Sie das schildern?

Kern: Wir hatten das Gefühl, dass die Inserate aus den Ministerien sehr erratisch vergeben werden. Als Bundeskanzler hast du in Österreich kein Durchgriffsrecht. Da kannst du die Faust in der Hosentasche ballen. Aber wie die Inserate vergeben werden, ist ausschließlich die Entscheidung des Ministers. Daher wollten wir die Entscheidungsmechanismen verändern. Wir haben den Vorschlag gemacht, dass alle Minister ihre Insertionsvorhaben in die Bundesregierung bringen müssen, also Transparenz zu schaffen und dort eine gemeinsame Entscheidung herbeizuführen, mit Einstimmigkeit. Meine Einschätzung war: Sobald wir das tun, wird sich das Volumen der Inserate sofort deutlich reduzieren.

STANDARD: Mitterlehner und Sie waren sich da einig?

Kern: Mitterlehner war da ganz entspannt, er hat damals allerdings schon die Einschätzung gehabt, dass das ein Sisyphusprojekt in seinen eigenen Kreisen wird. Und so war es auch. Das ist nicht nur verhindert worden, das ist auch in die Medien hineingetragen worden: Die SPÖ will euch das zerstören und wegnehmen. So haben sich diese Konflikte mit Fellner und Co immer weiter hochgeschaukelt. Wir waren für die eine Bedrohung, Sebastian Kurz hingegen eine Einnahmequelle.

STANDARD: Fairerweise muss man sagen, dass nicht Sebastian Kurz dieses System erfunden und entwickelt hat, das gab es vorher schon. Ihr Vorgänger Werner Faymann hat dieses System aufbereitet.

Kern: Ich muss sagen, das ist eine der echten Erbsünden und einer der gravierendsten Fehler, die auch die SPÖ mitzuverantworten hat. Man hat die Methode begonnen, die Kurz zur Meisterschaft entwickelt hat. Ich könnte Ihnen lange erzählen, was ich in dieser Zeit alles falsch gemacht habe, aber hier nicht entschlossener von der ersten Minute an etwas gesagt zu haben war sicher einer der größten. Das hätte man aus demokratiepolitischer Räson machen müssen. Das schwebt über allem drüber in diesem Land, das ist so eine Geißel geworden, so ein Krebsgeschwür unserer Demokratie. Dass ich dieses System der Inseratenvergabe nicht entschlossener bekämpft habe, mache ich mir selber zum Vorwurf. Aber ich hoffe, dass man jetzt daraus lernt. Da sind die Grünen gefordert, die Konsequenzen zu ziehen. Da kann man nicht mehr wegschauen.

STANDARD: Was müsste man denn anders machen?

Kern: Allein die Transparenz im Ministerrat, wo jedes Regierungsmitglied das vorab berichten und offenlegen müsste, wäre schon ein bedeutender Fortschritt. Ich denke aber auch, dass man in den Bundesländern eine Methode finden muss ...

STANDARD: In Wien etwa?

Kern: Nicht nur, das würde ich nicht nur auf Wien beziehen. Auch in der Wirtschaftskammer müsste man sich das anschauen. Die Kammer und der Wirtschaftsbund haben Budgets, die sind höher als jene der Bundesparteien, das geht natürlich auch seine Wege. Ich will niemandem etwas unterstellen, aber alleine die Versuchung auszuschalten, das zu missbrauchen, wäre ein richtiger Weg. Es ist immer problematisch zu sagen: die Medien. Es ist auch wichtig, dass man das benennt. Es gibt eben zum Glück auch andere Medien, die nicht vom System profitiert haben. Diese Strukturen zu stärken müsste jetzt ein dringender Plan sein. Die Presseförderung zu erhöhen und nach sachlichen Kriterien zu gestalten wäre wichtig. Ich war gerade in Berlin und habe das mit Unternehmern diskutiert. Allein die 230 Millionen Euro, die die Bundesregierung über Inserate vergibt, das glaubt dir dort niemand. Das wären auf deutsche Verhältnisse umgemünzt 2,3 Milliarden. Das ist eine österreichische Anomalie.

STANDARD: Was halten Sie vom Wechsel von Kurz ins Parlament und Schallenberg ins Kanzleramt?

Kern: Das ist das Konzept "Aus Raider wird jetzt Twix". Es ändert sich gar nichts, nur der Name an der Spitze, aber nichts am Inhalt, nicht einmal an der Verpackung. Ich glaube nur, dass dieser Erosionsprozess weitergehen wird und Kurz bald Geschichte sein wird. Das Problem ist nur, und das habe ich in Israel gesehen: Netanjahu ist seit fünf Jahren als Beschuldigter geführt worden. Das hat zu einer derartigen Verhärtung des politischen Klimas geführt, die Gegensätze in der Politik und in der Gesellschaft sind immer stärker geworden, das wurde auch bewusst so gespielt. Das hätte beinahe das Land zerstört. Netanjahu hat sich bis zur letzten Patrone gewehrt, den Premierministerposten abzugeben. Wenn ich mir eine nächste Wahlauseinandersetzung in Österreich vorstelle, dann wird das, was wir bisher erlebt haben, ein Kinderfasching sein. Die ÖVP wird sich aus dem System Kurz nicht befreit haben, das wird noch etliche Emanzipationsschritte brauchen. Ich glaube, da muss man größte Sorge haben um die politische Auseinandersetzung. Nach dieser Exzessphase des Rechtspopulismus und dieser Politik der Zuspitzung brauchen wir wieder eine Phase der gepflegten Langeweile, um die Köpfe wieder freizukriegen und diesen teilweise bis zum Hass gehenden Auseinandersetzungen Einhalt zu gebieten.

STANDARD: Ihre Nachfolgerin als SPÖ-Chef, Pamela Rendi-Wagner, hat beim Versuch, ein Bündnis gegen die ÖVP zu schmieden, so en passant die Vranitzky-Doktrin "Nicht mit der FPÖ" über Bord geworfen. War das ein guter Zug?

Kern: Ich hätte das in der Situation verstanden. Man darf nicht vergessen: Der heutige FPÖ-Chef Herbert Kickl wurde von Kurz in die Regierung 2017 geholt. Und heute hätten offenbar auch die Grünen und die Neos eine solche Zusammenarbeit mitgetragen. Deshalb finde ich es nicht fair, wenn man deswegen nur der SPÖ am Zeug flickt. Eine Zusammenarbeit zwischen SPÖ und FPÖ kann sich auf Dauer nicht ausgehen, das ist überhaupt keine Frage. Aber in der Situation wäre es gut gewesen, gemeinsam ein paar Dinge umzusetzen: das Innenministerium zu neutralisieren, die Medienkorruption abzuschaffen, das Amtsgeheimnis abzuschaffen. Eine befristete Zusammenarbeit auf zwölf Monate hätte ich für akzeptabel gehalten. Aber es war ohnehin eine Illusion.

STANDARD: Rendi-Wagner wird genau das jetzt vorgehalten.

Kern: Ja, ich weiß, und ich bin kein Freund dieser Vorwürfe. Die Grünen schaffen es, nonchalant darüber hinwegzugehen, die Neos schaffen das. Es ist schon eine spezielle Fähigkeit der SPÖ, sich da wieder infrage zu stellen.

STANDARD: Halten Sie ein Bündnis von Sozialdemokraten und FPÖ denn künftig für möglich?

Kern: Eine Zusammenarbeit zwischen SPÖ und FPÖ auf Dauer kann sich nicht ausgehen – weder bei der Pandemiepolitik noch bei der Integrationspolitik oder in der Wirtschaftspolitik. Aber momentan haben wir eine tiefwurzelnde Krise, da hätte man ein paar wichtige Dinge regeln können.

STANDARD: Angesichts der jüngsten Enthüllungen, die auch Ihre Kanzlerschaft betreffen: Fühlen Sie sich um das Amt betrogen?

Kern: Nein, das nicht. Ich habe selbst genug falsch gemacht im Wahlkampf.

STANDARD: Ging es im Vorfeld der Wahl nicht mit rechten Dingen zu?

Kern: Ein fairer Wettbewerb war es sicherlich nicht. Wirklich wichtig ist jetzt, alles aufzuklären und die richtigen Lehren daraus zu ziehen.

STANDARD: Strache schwadroniert in Ibiza davon, Kontrolle über die "Kronen Zeitung" zu erhalten. Damit das Massenblatt vor der Wahl "uns pusht" und damit der Partei zusätzliche Prozentpunkte beschert. Hat Kurz im Wahlkampf 2017 umgesetzt, wovon Strache nur träumte?

Kern: Das war eindeutig so. Es gab es eine breite Allianz von Helfern und Helfershelfern, in mehreren Zeitungsredaktionen. Ich habe mich dann ja mit den Boulevardmedien angelegt im Wahlkampf, was auch parteiintern schwierig war. Hochrangige Präsidiumsmitglieder sagten mir unter vier Augen: Du, Christian, das schadet dir, arrangier dich mit denen.

STANDARD: Und?

Kern: Das war die richtige Analyse. Nur: In diesem Punkt bin ich doch eitel. Man muss den Kakao, durch den man gezogen wird, nicht auch noch schlürfen. (Oliver Das Gupta, Michael Völker, 12.10.2021)

Link

Der Spiegel: »Kurz wird bald Geschichte sein« –Österreichs Ex-Kanzler Kern zur Staatsaffäre