Die ÖVP setzt sich immer schneller von Sebastian Kurz ab, sein Nachfolger Alexander Schallenberg kann sich anscheinend nur schwer von ihm lösen.

Die große Frage ist aber: Hält ein nennenswerter Teil der Bevölkerung Kurz noch die Treue? Hat ein Erkenntnisprozess stattgefunden – wissen "die Menschen draußen" überhaupt genau, warum der Strahlepolitiker Kurz als Bundeskanzler zurücktreten musste?

Die Antwort: Weil er die Macht zu sehr liebte. Weil er sie mit unerlaubten, vielleicht kriminellen Mitteln errang. Weil er außer Machtstreben inhaltlich kaum etwas zu bieten hatte.

Sebastian Kurz liebte die Macht zu sehr.
Foto: AFP/STEFANIE LOOS

Der Autor dieser Zeilen gehörte früh zu den Kurz-Skeptikern. Die Erfahrung mit glänzenden jungen Aufsteigern und Publikumslieblingen wie Haider, Grasser (und viel früher Androsch – aber der hatte mehr Substanz) hat vorsichtig gemacht.

Das stieß bei etlichen Lesern und auch Freunden auf Unverständnis. Sie hielten Sebastian Kurz für neu, interessant, sie nahmen ihm den "neuen Stil" ab.

Aber er löste bei manchen ein schwer beschreibbares Unbehagen aus. Es gibt ein Video des alten Erhard Busek, wo er halb verzweifelt nach den Inhalten von Kurz fragt. Andere stießen sich an der aggressiven Sprache gegenüber Flüchtlingen, an seinem merkwürdigen Verständnis für autoritäre Osteuropäer.

Kurz sah auch kein Problem darin, mit der rechtspopulistischen, in Teilen rechtsextremen – und regierungsunfähigen – FPÖ gemeinsame Sache zu machen.

Reformunfähigkeit

Im September 2017 schrieb ich: "Kurz hat erkannt, dass generell große 'Systemverdrossenheit' und eine 'Wechselstimmung' herrscht. Was wir nicht wissen: Wie weit will Kurz letztlich gehen? Nur die (unbestrittene) Reformunfähigkeit der alten Institutionen beseitigen? Oder gleich das ganze 'System Zweite Republik'?"

Im Laufe der Jahre stellte sich mehr und mehr die Frage: Wie viel Orbán steckt in Kurz? Wie sehr strebt er eine autoritär geprägte, illiberale Demokratie an? Die Analyse in einem Artikel vom Mai lautete: "Mit Orbán und Kurz haben kleine, verschworene Gemeinschaften die Kontrolle über einen ganzen Staat übernommen. Orbán und Kurz führten ihre ,christkonservativen‘ Parteien nationalpopulistisch nach rechts. Orbán hat die demokratischen Kontrollinstitutionen in seine Gewalt gebracht, Kurz schießt 'nur' Störfeuer gegen sie (die Justiz, Anm.)." Und: "Orbán ist über die demokratische Grenze eindeutig hinausgegangen. Kurz steht manchmal an der Grenze."

Auch erfahrene Journalisten können sich irren. Erst jüngst habe ich geschrieben, Pamela Rendi-Wagner habe in der aktuellen Krise die Möglichkeit nicht einkalkuliert, dass die ÖVP-Landeshauptleute zum "Beiseitetreten" nötigen würden. Das stimmt so nicht. Sie hat es in der ZiB 2 gesagt (allerdings in der ganzen Affäre die Möglichkeit einer gemeinsamen Aktion mit der FPÖ falsch eingeschätzt).

Wer Sebastian Kurz kritisch sieht, kann sich inzwischen auf die von der Staatsanwaltschaft ausgewerteten Chats berufen. Trotzdem besteht die Gefahr, dass manche eine Märtyrerlegende glauben, dass viele einem Politiker nachtrauern, der eine Hoffnungsfigur zu sein schien. Der Prozess, diese Märtyrerlegenden zu dekonstruieren, liegt noch vor uns. (Hans Rauscher, 12.10.2021)