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Ein Kohlekraftwerk nahe Sasolburg, Südafrika, bläst Abgase und Dampf in die Morgenluft. Wo sich der zunehmende Treibhauseffekt besonders stark auswirkt, konnte eine KI aus zehntausenden Klimawandelstudien schließen.
Foto: REUTERS/Siphiwe Sibeko

Der menschengemachte Klimawandel wird häufig in etwa so zusammengefasst: Die globale Durchschnittstemperatur steigt, weil die Menschheit große Mengen von Treibhausgasen in die Luft bläst. Nach allem, was man bisher weiß, ist das zwar korrekt, doch – so simpel, wie das klingen mag – die Mechanismen dahinter, die lokalen wie globalen Folgen und die Wechselwirkungen all der Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, sind unheimlich komplex. Das schlägt sich auch in der rasant wachsenden Anzahl von Studien nieder, die sich mit den vielen Facetten des Klimasystems auseinandersetzen. Diese Flut an wissenschaftlichen Arbeiten ist eigentlich nicht mehr zu überblicken, geschweige denn miteinander in Beziehung zu setzen – außer man bedient sich nicht-menschlicher Unterstützung.

"Seit dem ersten Sachstandsbericht (AR1) des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) im Jahr 1990 schätzen wir, dass die Zahl der pro Jahr veröffentlichten Studien zu beobachteten Klimafolgen um mehr als zwei Größenordnungen zugenommen hat", beklagen Wissenschafter in einem aktuellen Paper. Dieses exponentielle Wachstum bei wissenschaftlichen Publikationen zum Klimawandel bringt Experten, die sich mit der Materie beschäftigen, bereits an ihre Grenzen.

BERT liest zehntausende Studien

Selbst konventionelle Metaanalysen können nur einige Dutzend bis höchstens ein paar hundert Studien berücksichtigen. Eine mögliche Lösung für dieses "Big Literature"-Dilemma wäre, die Lektüre einer Künstlichen Intelligenz (KI) zu überlassen – und das funktioniert offenbar erstaunlich gut, wie ein Team um Max Callaghan vom Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) in Deutschland unter Beweis gestellt hat.

Für die im Fachjournal "Nature Climate Change" veröffentlichte Studie setzten die Forscher auf BERT (Bidirectional Encoder Representations from Transformers), ein KI-Tool zur Deep-Learning-Sprachanalyse, das 2018 von Google vorgestellt und mittlerweile erheblich weiterentwickelt wurde. BERTs Aufgabe bestand in diesem Fall darin, mehr als 100.000 wissenschaftliche Klima-Studien zu identifizieren, zu klassifizieren und auf dieser Grundlage die Auswirkungen des Klimawandels detailliert zu beschreiben.

Daten im geographischen und historischen Kontext

Natürlich können derartige automatisierte Analysen die fundierte Einschätzung menschlicher Experten nicht ersetzen, räumt Callaghan ein. Das ändere jedoch nichts an der Tatsache, dass sich die übermenschlichen Fähigkeiten von KIs durchaus auch in der Klimaforschung nutzbringend einsetzen lassen. Im konkreten Fall bedeutete das, gewaltige Datenmengen zu verarbeiten, dabei eine Vielzahl unterschiedlicher Folge der Erderwärmung zu identifizieren, sie auf dem Globus zu verorten und schließlich im Kontext historischer Temperatur- und Niederschlagstrends zu interpretieren.

Die von BERT ausgespuckten Ergebnisse müssen freilich mit der gebotenen Vorsicht beurteilt werden. Maschinelle Analysen, insbesondere in einem so erstaunlichen Umfang, können zu einigen falsch positiven Resultaten führen sowie auch andere Arten von Unsicherheiten enthalten, warnen die Forscher. "Während herkömmliche menschliche Untersuchungen relativ genaue, aber in verschiedener Hinsicht lückenhafte Belege für den Klimawandel liefern können, generiert unser KI-gestützter Ansatz ein sehr umfangreiches, aber im Detail unsicheres Bild", meinen Callaghan und seine Kollegen.

80 Prozent der Landfläche betroffen

Insgesamt präsentierte BERT freilich eine reichlich beunruhigende Zusammenfassung: 80 Prozent der globalen Landflächen (ohne die Antarktis) zeigen der Studie zufolge bereits Trends bei Temperatur und/oder Niederschlag, die zumindest teilweise auf den menschlichen Klimaeinfluss zurückzuführen sind. Gut 85 Prozent der Weltbevölkerung sind demnach von den Veränderungen bereits betroffen.

Für die Erkenntnis, dass der Klimawandel ein gewaltiges, annähernd die gesamte Menschheit betreffendes Problem darstellt, braucht es nicht unbedingt eine hochleistungsfähige KI, das wissen wir ohnehin schon. Dagegen sind die regionalen Ergebnisse sehr wohl aufschlussreich, also wo Klimawandelfolgen bereits klar erkennbar sind und wo nicht: So schloss BERT aus den unzähligen von ihm analysierten Studien, dass sich für mindestens 48 Prozent der Landfläche (auf der drei Viertel der Weltbevölkerung zuhause ist) ziemlich eindeutige Zusammenhänge zwischen Veränderungen bei Temperatur- oder Niederschlagstrends und Auswirkungen auf menschliche und natürliche Systeme abzeichnen.

Ein Blütenteppiche bedeckt die Atacamawüste in Chile, ein Phänomen, das nur alle fünf bis sieben Jahre auftritt. In den letzten Jahrzehnten zeichnet sich ab, dass durch den Klimawandel in die ohnehin schon außerordentlich trockene Region noch weniger Wasser gelangt – die Abstände zwischen den farbenfrohen Spektakeln werden immer größer.
Foto: EPA/JOSE CAVIEDES

Regionale Lücken

Oder mit anderen Worten: Für Regionen wie Westeuropa, Nordamerika sowie Süd- und Ostasien liefern besonders viele Studien starke Belege für einen Einfluss der anthropogenen Erderwärmung auf Veränderungen in der Natur. In anderen Gebieten sind diese Zusammenhänge allerdings weniger deutlich, möglicherweise weil es für die entsprechenden Gegenden noch nicht genug Daten gibt.

"Der Mangel an Evidenz in einzelnen Studien liegt wohl daran, dass die betreffenden Regionen bisher weniger intensiv untersucht wurden, und nicht daran, dass dort keine Auswirkungen gibt", vermutet Callaghan. Dadurch weist die Studie auch auf Lücken hin, die noch geschlossen werden müssten. Diese betreffen vor allem dünn besiedelte Gebiete und Länder mit niedrigem Durchschnittseinkommen.

"Letztendlich hoffen wir, dass unsere Methode dazu beitragen wird, die Auswirkungen des Klimawandels auf bestimmte Systeme oder geografische Regionen klarer darzustellen", sagen die Forscher. "Wenn wissenschaftlicher Fortschritt gleichsam auf die Schultern von Riesen angewiesen ist, dann scheint es, als wären diese Schultern in Zeiten, wo wissenschaftliche Literatur dermaßen schnell anwächst, immer schwerer zu erreichen. Unser KI-assistierter Zugang könnte dabei in Zukunft eine Aufstiegshilfe darstellen." (tberg, 16.10.2021)