Sebastian Kurz war zu dem Zeitpunkt, als das Schreiben verschickt wurde, noch Bundeskanzler, nun sitzt er im Parlament.

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Nervös war man im Bundeskanzleramt ja schon vor den Hausdurchsuchungen, die vergangene Woche Österreichs Innenpolitik erschütterten. Das zeigte sich nicht nur in Pressekonferenzen, in denen ebendiese Hausdurchsuchungen vorab angedeutet wurden, sondern auch in einer Bitte an die IT-Abteilung: Man möge doch eine Möglichkeit finden, wie sämtliche E-Mails und Kalendereinträge aller Mitarbeiter nach einem Jahr automatisch gelöscht werden können. Die wurde gefunden, Stichtag dafür wäre der 10. November gewesen. Am Donnerstag, nachdem DER STANDARD über den Vorgang berichtet hatte, versuchte die Koalition aber, ihn zu stoppen.

Die Causa im Detail, sie startet mit einem Blick zurück: Im Mai beauftragte der Verfassungsgerichtshof den Bundespräsidenten mit der Exekution von Daten aus dem Finanzministerium. Denn Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) weigerte sich, dem Untersuchungsausschuss Mails und Akten aus seinem Ministerium zu liefern; schließlich musste das Straflandesgericht die Daten exekutieren. Vorausgegangen war dem eine langwierige Debatte darüber, was nun für den U-Ausschuss relevant ist – und, vor allem, wie viel man dem Ausschuss überhaupt geben könne, da sich in den Mails auch private Kommunikation befinde.

Dann war es eine Weile verhältnismäßig ruhig um die ÖVP und ihre Mails – bis vergangene Woche das Bundeskanzleramt durchsucht wurde. Die Ermittler der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) waren auf der Suche nach Handys, Servern und PCs, die ihnen Beweise in der Causa Inseratenkorruption liefern könnten. Der Verdacht steht nicht zuletzt wegen Chats im Raum, in denen sich hochrangige ÖVPler über das sogenannte B.-Österreich-Tool austauschten – Chats, in denen bekanntlich mitunter in recht saloppem Umgangston kommuniziert wurde.

Im Zweifelsfall weg damit

Unmittelbar vor einer verhängnisvollen Hausdurchsuchung wurde im Bundeskanzleramt ein Schreiben verschickt. Es liegt dem STANDARD vor und regelt in recht umständlichem Beamten-und-Techniker-Sprech den neuen Umgang mit "formeller" und "informeller" Kommunikation, denn der "Herr Generalsekretär" habe die Umsetzung eines "Informationssicherheitsmanagementsystems" beauftragt.

Der Kern dieses geplanten Systems: Weniger ist künftig mehr. Vor dem Hintergrund der "Verwaltungsvereinfachung" und wegen "verwaltungsökonomischer Aspekte" soll fortan bei Mails und Kalendereinträgen zwischen privater Kommunikation, formellem Verwaltungshandeln und informellem Verwaltungshandeln unterschieden werden. Letzteres ist in dem Schreiben definiert als "Handlungen einzelner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ohne entsprechenden Regelungswillen und -wirkung". Je nachdem, wie die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre Mailkonversationen selbst einschätzen, müssen sie diese künftig an verschiedenen Orten ablegen. Tun sie das nicht, sind sie weg.

Denn nur was explizit als "dienstliche Kommunikation" abgelegt wird, wird laut dem Schreiben länger als 365 Tage aufbewahrt. In den anderen beiden Kategorien müssen, das geht aus dem Papier hervor, einzelne Mails und Kalendereinträge separat abgelegt werden, sonst werden sie nach einem Jahr entfernt. Bis 10. November hätten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Bundeskanzleramt dem Schreiben zufolge noch Zeit, jene Mails und Kalendereinträge zu suchen, die älter als ein Jahr sind und dennoch aufgehoben werden sollen. Danach, so steht es explizit in dem Schreiben, stünden diese in den Postfächern "nicht mehr zur Verfügung".

Koalition bläst Löschaktion ab

Nachdem die SPÖ ebenfalls auf die Causa aufmerksam wurde und am Donnerstag eine dringliche Anfrage im Nationalrat einbrachte, drehte die Koalition das Ruder um. Zum einen verlas Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) die Antworten aus dem Bundeskanzleramt auf die dringliche Anfrage der SPÖ – Kanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) konnte nicht, weil er in Brüssel war.

Die Vermutungen der SPÖ wurden darin samt und sonders zurückgewiesen. Verwiesen wurde darauf, dass auch andere Ministerien, unter anderem auch das Klimaschutzressort, ihre Daten bereits ins Bundesrechnungszentrum exportiert hätten. Auch von Krainer vorgebrachte Verdachtsmomente, wonach kurz vor der Hausdurchsuchung im Kanzleramt Transportunternehmen im Einsatz waren, wurden verneint. Außerdem hieß es, dass es gar nicht um Löschungen gehe sondern um eine Konsolidierung, mit der die IT aus Sicherheitsgründen im Bundesrechnungszentrum gebündelt wird.

Zum anderen brachten Wolfgang Gerstl von der ÖVP und Eva Blimlinger von den Grünen einen Entschließungsantrag ein, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, "jedenfalls sicherzustellen, dass für die Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrollrechte, wie insbesondere den zuletzt eingesetzten Untersuchungsausschuss, die notwendigen Akten- und Datenbestände, etwa in Sicherungskopien, aufbewahrt werden". Der "Datenmigrationsprozess" solle also ausgesetzt werden. "Damit ist in jedem Fall sichergestellt, dass die für die lückenlose Aufklärung notwendigen Akten- und Datenbestände zur Verfügung stehen", heißt es aus dem grünen Klub im Parlament.

Zuvor schon reagierte die SPÖ auf die Vorkommnisse und berief eilig eine Pressekonferenz ein. Fraktionschef Kai Jan Krainer sah in den Vorgängen die "wahrscheinlich größte Datenvernichtung der Zweiten Republik" in Vorbereitung. Da der U-Ausschuss erst einige Tage nach der Löschfrist, konkret am 17. November, mit der Aktenanforderung beginnen kann, würden laut Krainer wichtige Informationen dem Gremium vorenthalten. Außerdem seien nach Informationen der SPÖ ähnliche Löschaktionen auch in anderen ÖVP-geführten Ministerien wie dem Finanz- und Innenressort in Planung.

"Szenarien ausloten"

Auf Anfrage des STANDARD wurde im Bundeskanzleramt schon zuvor der geplante Vorgang als nicht ganz so fix dargestellt. Derzeit fänden "die entsprechenden Planungen und Überlegungen statt bzw. werden technische, organisatorische Szenarien ausgelotet", hieß es, man werde nach einem Beschluss aller Generalsekretäre die IT "im Bunde konsolidieren". Außerdem hieß es: "Nach derzeitigem Planungsstand ergibt sich am Status quo hinsichtlich der Verfügbarkeit insgesamt keine Änderung. Inwieweit für Benutzerinnen und Benutzer individuelle Zugriffsmöglichkeiten bestehen werden, unterliegt einem laufenden Planungs- und Abstimmungsprozess. Hinsichtlich der Verfügbarkeit vor dem Zeitpunkt der Migration gibt es im Bundeskanzleramt keine Überlegungen bzw. sind keine Änderungen vorgesehen."

In dem internen Schreiben klingt das anders: Demnach sollen etwa auch nach dem "Gebot der Datenminimierung" alle Mails und Kalendereinträge regelmäßig auf "dienstliche Relevanz und Löschpflichten" geprüft werden.

Datenminimierung ist keine Löschpflicht

Nikolaus Forgó, der Leiter des Instituts für Innovation und Digitalisierung im Recht an der Universität Wien, meint zum Plan des Kanzleramts: Die DSGVO kenne zwar den Grundsatz der Datenminimierung, "dieser ist aber nicht so zu verstehen, dass immer stets alles zu löschen ist". Stattdessen komme es darauf an, "ob nicht eine rechtliche Pflicht besteht, Daten zu speichern". Daraus ergebe sich aber nicht gleichzeitig eine Pflicht zur Löschung.

Diese Diskussion ist nicht neu. Zuletzt brach sie aus, als der damalige Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Zuge des Ibiza-U-Ausschusses angab, seine Chats regelmäßig zu löschen. Am Mittwoch beantragte die Opposition nun einen U-Ausschuss zum Thema "ÖVP-Korruption". Grundsätzlich sind Mails, die hochrangige politische Verantwortliche verschicken, heikel und überdies unklar geregelt. Das Gesetz dazu ist veraltet: Die Bundesarchivgutverordnung stammt aus dem Jahr 1999 und wurde nur ein einziges Mal verändert.

Aus archivarischer Sicht, so meint Verfassungs- und Verwaltungsjurist Peter Bußjäger, sei ein derartiges Vorgehen aber nicht problematisch. "Ein Archiv ist keine Rumpelkammer", sagt er, es gelte das Prinzip: Nur was relevant ist, muss archiviert werden. Das zu erkennen könne man Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auch zumuten.

Aus der Sicht eines etwaigen Untersuchungsausschusses sieht das schon anders aus: Für den ist alles wichtig, was "abstrakt relevant" für den Untersuchungsgegenstand ist – so die Ansicht des Verfassungsgerichtshofs. Da eine Löschanordnung die parlamentarische Kontrolle erschweren könne, wäre eine solche "zumindest untersuchungswürdig", sagt Bußjäger: "Die dürfte dann wirklich nur die höchstpersönliche Kommunikation betreffen." Noch mehr steht den Ermittlern in einem Strafverfahren zu: "Denen muss ich auch höchstpersönliche Infos geben." (Gabriele Scherndl, Fabian Schmid, 14.10.2021)