Politologe Anton Pelinka geht in seinem Gastkommentar auf die Rolle der Oppositionsparteien ein. Er sieht hier niemanden gestärkt aus der Oktoberkrise hervorgehen.

Eigentlich hätte es die große Stunde der Opposition sein müssen: Ein Kanzler, von der Justiz in die Enge gedrängt, hatte das Vertrauen seines Koalitionspartners verloren. Wer, wenn nicht die Opposition, sollte daraus Gewinn ziehen? Doch diese konnte ihre Chance nicht nützen. Die Entwicklung der letzten Tage wurde nicht von der Opposition bestimmt. Die entscheidende Weichenstellung kam vom Bundespräsidenten und von den Grünen. Und keine der Oppositionsparteien geht gestärkt aus der Oktoberkrise hervor.

Wie halten sie es nun mit der FPÖ? SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner und Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger.
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Die FPÖ wäre die große Gewinnerin gewesen, hätte es eine Vier-ParteienKoalition gegeben: SPÖ, Grüne und Neos hätten in einer solchen Allianz massiv an Glaubwürdigkeit verloren. Die Freiheitlichen aber, die wären wieder im Spiel: die Partei, die in Sachen Fremdenfeindlichkeit noch immer ohne Probleme die Kurz- ÖVP überbieten kann; die Partei, bei der regelmäßig Verbindungen zur extremen Rechten sichtbar werden; die Partei, die als Sprecherin eines gefährlichen gesundheitspolitischen Unsinns von allen anderen Parteien isoliert ist.

Mit einer solchen Partei wollte Pamela Rendi-Wagner ein Bündnis eingehen – nur um Sebastian Kurz loszuwerden? Dafür erntete die SPÖ-Vorsitzende zu Recht den Hohn des burgenländischen Landeshauptmanns. Er, der wegen seines landespolitischen Schulterschlusses mit der FPÖ innerparteilich viel Kritik einstecken musste, kann nun Rendi-Wagner Inkonsequenz vorhalten. Und so kann er, nunmehr ungestört von innerparteilichen Querschüssen, seine Strategie in Richtung FPÖ fortsetzen. Denn es war ja nicht Hans Peter Doskozil, der mit Herbert Kickl über eine Koalition parliert hat.

"Zug zum Tor"

Rendi-Wagner wird innerparteilich oft vorgehalten, ihr fehle der "Zug zum Tor". Sie könne im Boxring der Politik den entscheidenden Punch nicht setzen. Jetzt hat sie es einmal versucht – zum falschen Zeitpunkt, bei der falschen Gelegenheit, mit dem falschen Partner. Und alles ist danebengegangen. Die SPÖ und ihre Vorsitzende sind durch den Sturz des Kanzlers nicht gestärkt.

Und die Neos, die sich in Sachen Europa von niemandem übertreffen lassen wollen? Wären sie wirklich bereit gewesen, ihr Alleinstellungsmerkmal in Sachen Europa zu opfern und sich mit der Anti-EU-Partei Nummer eins zu verbünden, nur um die Anti-EU-Partei Nummer zwei aus der Regierung zu drängen? Ein Bündnis mit den Freunden des serbischen Nationalismus und des russischen Präsidenten, nur um den Freund Viktor Orbáns aus dem Kanzleramt zu entfernen? So sieht eine schlüssige Europapolitik nicht aus.

In Deutschland gilt für SPD, Union, Grüne, FDP und Linke die eherne Regel: keine Absprachen mit der AfD. In Österreich werben – zu verschiedenen Zeiten, mit unterschiedlichem Erfolg – ÖVP und SPÖ immer wieder um die Gunst der Schwesterpartei der AfD. Dass SPÖ und Neos 2021 bereit gewesen wären, der FPÖ zu demokratischer Reputation zu verhelfen, zeigt ein hohes Maß der Verluderung politischer Kultur. Darauf kann Österreich nicht stolz sein.

"Der Rücktritt von Kurz verhinderte, dass Kickl für kurze Zeit der einzige Nutznießer der Regierungskrise werden konnte, bevor Kurz als wahrer Sieger zurückkehren würde."

Mag sein, dass viele in der SPÖ und bei den Neos die Idee eines Regierungsbündnisses mit Kickl nur als Drohgebärde aufbauen wollten, um die ÖVP zu verschrecken. Was aber wäre gewesen, wenn Kurz sich tatsächlich von der Opposition und den Grünen in einer öffentlichen Sitzung des Nationalrates hätte stürzen lassen? Kurz hätte davon ausgehen können, dass eine Regierung der vier nur von kurzer Lebensdauer sein kann und er, nach Neuwahlen, als Opferlamm wiederauferstehen wird – stärker als zuvor, ausgestattet mit einer parlamentarischen Stärke nahe bei 50 Prozent.

Zum Glück für die Opposition war die ÖVP nicht raffiniert genug, um diese Chance zu erkennen. Der Verlust so vieler Kabinettsposten war doch zu riskant. Der Rücktritt von Kurz verhinderte, dass Kickl für kurze Zeit der einzige Nutznießer der Regierungskrise werden konnte, bevor Kurz als wahrer Sieger zurückkehren würde.

SPÖ und Neos (und die Grünen?) waren offenbar bereit, in Absprache mit der FPÖ tagespolitisches Taktieren à la Kurz zu praktizieren. Das nötige Geschick beim Taktieren hatte bei den Oppositionsparteien aber dann doch gefehlt. Rendi-Wagner und Beate Meinl-Reisinger opferten einen Teil ihrer Glaubwürdigkeit, ohne damit Erfolg zu haben. Es wäre freilich schlimmer gekommen, hätten sie mit Kickl die Regierungsbank geteilt. Die Vier-Parteien-Koalition hätten sie nie unter Kontrolle bekommen, denn der wahre Kontrolleur wäre Kickl gewesen. SPÖ und Neos müssen dankbar sein, dass sie daran gehindert wurden, sich mit der FPÖ einzulassen. Und so ging Kickl – trotz des Herumtaumelns von SPÖ und Neos – doch nicht als Sieger aus der Oktoberkrise hervor.

Vor dem Ziel ausgetrickst

Wer aber hat gewonnen? Ein wenig die Grünen. Sie können darauf verweisen, dass ihre Parole "Weitermachen, aber ohne Kurz" umgesetzt wurde. Vor allem aber ist Alexander Van der Bellen gestärkt. Er hat demonstriert, dass der demokratisch legitimierte Bundespräsident die Reservemacht der Republik ist. Nicht gewonnen hat jedenfalls die Opposition. Die FPÖ wurde kurz vor dem Ziel ausgetrickst. Und SPÖ wie auch Neos müssen sich mit dem nicht sehr interessanten Theater "Alle gegen den Schattenkanzler" beschäftigen.

Es ist alles nur Taktik, nichts ist Strategie: Diesen Vorwurf an Sebastian Kurz können SPÖ und Neos nun nicht mehr erheben. Sie haben den Großmeister der inhaltlichen Leere zu imitieren versucht. Sie habe nur an das Morgen gedacht und das Übermorgen ausgeblendet. Und die FPÖ? Der wäre – fast – ein strategischer Erfolg in den Schoß gefallen. (Anton Pelinka, 14.10.2021)