Pikachu streitet sich mit Micky Maus wohl um den Titel als bekannteste Maus der Welt.

Foto: The Pokémon Company

Pokémon muss man eigentlich nicht vorstellen. Das Maskottchen der Marke – die Elektromaus Pikachu – ist vielleicht genauso bekannt wie Micky Maus und schmückt seit nunmehr 25 Jahren weltweit die Kinderzimmer, ob als Poster, Plüschtier oder Kleidungsaufdruck. Pokémon ist eine Macht: über 200.000.000 verkaufte Videospiele, eines der erfolgreichsten Sammelkartenspiele der Welt, 21 Kinofilme, ein weltweit beliebter Anime und eine Fanartikelindustrie, der eventuell nur noch die von Marvel oder Star Wars das Wasser reichen können.

Das Geschäft läuft gut. 2020 hat die Pokémon Company einen Rekordprofit von 170 Millionen US-Dollar verzeichnen können – eine Steigerung von 21,2 Prozent gegenüber 2019. Der Jahresumsatz beläuft sich auf über 1,1 Milliarden Dollar.

Umso erstaunlicher ist es, dass die Fangemeinde immer wütender und lauter wird, Protest und Unmut werden größer. Zu Recht. Eine der größten und wertvollsten Videospielmarken der Welt hat nämlich ein gravierendes Problem: Pokémon ist zu erfolgreich.

Es waren einmal Insekten

Spulen wir ins Japan der 1970er-Jahre zurück. Ein Junge namens Satoshi Tajiri sammelt in einem Vorort Tokios leidenschaftlich gerne Insekten, benennt sie und lässt Zeichnungen der Sechsfüßler gegeneinander Fantasiekämpfe austragen. Aus dieser Leidenschaft sollte später die Idee der Pokémon werden. 1982 gründet Tajiri das Magazin "Game Freak", um gemeinsam mit dem Entwicklerstudio Creatures die ersten Pokémon-Spiele zu entwickeln, die 1996 schließlich von Nintendo für den hauseigenen Gameboy veröffentlicht wurden.

Der Pokémon-Anime zählt mittlerweile 24 Staffeln mit über 1000 Folgen.
Sinushkaable

Damals rechnete eigentlich niemand mit einem Kassenschlager. Der daraufhin eintretende Erfolg überwältigte die Entwickler und bedeutete die Geburtsstunde einer der bekanntesten Videospielreihen aller Zeiten. Solch Erfolg lockt an. Wenig später wurden Lizenzen für eine Animeserie, Merchandise und eben das bis heute beliebte Sammelkartenspiel vergeben.

Dieses Konglomerat an Poké-Produkten wurde 1998 in die USA und 1999 schließlich nach Europa exportiert. Allein die Spiele der ersten Generation verkauften sich rund 45.000.000-mal. Ein Jahr später folgte der erste Kinofilm der Reihe. Der Boom war perfekt.

Glumanda, Shiggy oder Bisasam?

Das Erfolgsrezept der ersten Editionen war so einfach wie genial. Man entwickle ein Rollenspiel samt Kampfsystem, das gerade so komplex ist, um strategisches Denken zu belohnen, aber einfach genug, dass Kinder Spaß damit haben können. Dazu kommen 151 (mal mehr mal weniger) kreativ designte Monster, die mit genug Training ihre Optik und Werte verbessern, und ein Spielkonzept, das den natürlichen Sammeltrieb der Menschen befriedigt. Dem nicht genug, gibt man den Millionen Nachwuchstrainern noch die Option, ihre Monsterchen miteinander zu tauschen. Wie soll das nicht funktionieren?

Bitte mehr davon!

Nachdem Pokémon innerhalb kürzester Zeit zu einer monströsen Marke heranwuchs, waren die Erwartungen an den Nachfolger groß. 2001 erschienen schließlich die Goldene und Silberne Edition für den Gameboy Colour – quasi ein Pokémon 2. Die Spiele boten den Fans wohl haargenau, was sie sich erhofften: 100 neue Pokémon, eine ganz neue Region, die Möglichkeit gegen andere Trainer in der Schulpause zu kämpfen – und nebenbei war die gesamte Region der Vorgängerspiele ebenfalls Teil der Fortsetzung. Eine Sensation. Die Verkaufszahlen sprachen für sich. Die Nachfolgereditionen konnten nahtlos an den Erfolg von 1999 anknüpfen. Das System hatte sich endgültig bewährt. Pokémon war gekommen, um zu bleiben.

Ich will der Allerbeste sein

Der Siegeszug der Taschenmonster ist bis heute nicht aufzuhalten. Abseits der Rollenspiele feiern Spin-offs wie Pokémon Snap finanzielle Erfolge. Die Fernsehserie läuft in mittlerweile 169 Ländern, das Sammelkartenspiel ist nach Magic: The Gathering und Yu-Gi-Oh das beliebteste seiner Art, und Pokémon Go war ein Phänomen. Es scheint egal zu sein, was versucht wird zu verkaufen: Es funktioniert, weil Pokémon halt funktioniert.

"Pokémon Go" löste 2016 einen immensen Hype aus.
Foto: imago - Friedrich Stark

Doch genau hier liegen die Fans mit den Entwicklern im Argen. Obwohl die Marke weiterhin beliebt bleibt, sind die Spielerinnen und Spieler zunehmend unzufrieden mit der Evolution der Reihe. Der Grundtenor: Ironischerweise entwickelt sich gerade Pokémon nicht.

"Du hast die Entwicklung abgebrochen"

Mit Pokémon Schwert und Schild erschienen 2019 die zwei Hauptspiele der achten Spielegeneration für die Nintendo Switch. Der insgesamt 31. und 32. Ableger der Reihe. Vor Release der Titel war der Aufschrei der Fangemeinde groß. Das Spiel sieht hässlich aus, es ist erstmals nicht mehr möglich, alle bekannten Pokémon zu fangen, und die angekündigten Innovationen bleiben hinter den Erwartungen zurück. Manche Fans boykottierten die Spiele gar.

Dieser Aufschrei konnte als kollektiver Stinkefinger in Richtung Pokémon Company verstanden werden, in dem sich jahrelange Enttäuschung der Fans sammelte. Denn die Hauptspiele der Reihe haben sich in 25 Jahren kaum weiterentwickelt. Der größte Unterschied zwischen dem 2019 erschienenen Pokémon Schild und dem Erstlingswerk von 1996, Pokémon Blau, findet sich vor allem in der Optik wieder. Statt fünf verschiedenen Grüntönen können wir die Monster in 3D betrachten. Am generellen Spielprinzip hat sich allerdings so gut wie nichts verändert.

Ein Waggon der Tokioter U-Bahn samt Pokémon-Aufdruck.
Foto: ZUMA Press

Als Gegenargument könnte man nun andere Traditionsmarken aufzählen, die doch auch immer nur mehr vom Gleichen bringen. Die Pokémon-Spiele sind in ihrer Einfallslosigkeit jedoch einzigartig. Veränderungen werden seit Jahren nur zaghaft in neue Ableger eingebaut und bleiben den Spielern selten länger als eine Spielegeneration erhalten. Zu groß ist die Angst, vom altbekannten Spielprinzip abzuweichen – das Spielprinzip, das sich mit allen Stärken und Schwächen seit über 20 Jahren nicht verändert hat. Wer 2021 Pokémon spielt, bekommt ein Gameplay, das genauso am Gameboy aus den 90ern funktionieren würde.

"Du kannst das hier nicht benutzen"

Wie voreinst schon erwähnt, ist Pokémons größtes Problem, dass es zu erfolgreich ist. Denn egal, wie groß der Kummer der Fans und wie laut der Aufschrei der Community auch sein mag: Pokémon verkauft sich. Egal, wie klein die Entwicklungen der Reihe auch sein mögen, denn da draußen wird es immer neue Kinder geben, die diese Erfahrung zum ersten Mal erleben. Sobald auch bei ihnen schließlich Ermüdung einsetzt, da sich die Reihe einfach nicht fortbewegen will, ist auch schon die nächste Generation alt genug, um mit dem Sammeln der Taschenmonster zu beginnen.

Ein Merchandise-Verkaufsstandort in Japan
Foto: imago - AFLO

Die Pokémon Company ist ein gigantisches Unternehmen, das die Welt der Popkultur maßgeblich mit beeinflusst. Sie kann sich Risiken erlauben und Wagnisse eingehen; aber wieso sollte sie? Das gleiche System funktioniert seit zwei Jahrzehnten grandios, und was kümmert es eine millionenschwere Firma, wenn ein paar Berufsjugendliche keine Lust mehr aufs Sammeln haben, sich dies aber kaum in den Zahlen kaum niederschlägt?

Schnapp sie dir alle!

Als langjähriger Pokémon-Fan hat man in den letzten Jahren gelernt, seine Erwartungen so tief wie möglich anzusetzen und trotzdem enttäuscht zu werden. So gibt es sie aber noch: die Pokémon-Enthusiasten, die im Internet ihre Hoffnungen und Träume für bevorstehende Titel preisgeben.

Der prinzipielle Konsens lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das was Breath of the Wild für die The Legend of Zelda-Reihe und Super Mario Odyssey für Mario war, sollte Schwert und Schild für Pokémon werden. Eine offene Spielwelt, Kämpfe in Echtzeit, ein funktionierendes Onlinesystem, Freiheiten im Gameplay und vielleicht sogar eine Rahmenhandlung, der man gerne folgt und die man nicht als lästiges Beiwerk betrachtet.

All das kam nie.

Das war mal wieder ein Schuss in den Ofen

Mit der Ankündigung von Pokémon Legends Arceus säte die Pokémon Company wieder Hoffnung in den Herzen der Fans. Gut, das Spiel wirkt selbst in den Trailern matschig, leer und auf gut Deutsch einfach abartig schirch, aber endlich bekommen wir eine Open World! Endlich bekommen wir Kämpfe in Echtzeit! Endlich bekommen wir all das, was wir seit Jahren begehren – nur bekommen wir es leider doch nicht.

Der aktuelle Trailer von Pokémon Legends Arceus lässt die Wogen im Internet wieder hochgehen.
IGN

Das Spiel soll im Jänner 2022 erscheinen, und mittlerweile hört man ähnlich laute Boykottaufrufe wie bei Schwert und Schild. So gibt es weder Onlinekämpfe noch den heiß erwarteten National Dex, und die Open World war übrigens auch ein Trugschluss. Fairerweise sollte man hinzufügen, dass davon nie die Rede war. Der Trailer spielt allerdings auf perfide Art und Weise mit den Erwartungshaltungen langjähriger Fans.

Ich suche weit und breit

So stehen wir Poké-Fans mal wieder vor einer herben Enttäuschung. Immerhin: Was Nintendo nicht hinbekommt, nimmt die Community selbst in die Hand. Mittlerweile gibt es dutzende Fanprojekte, die Trainern da draußen geben, wonach sie sich seit Ewigkeiten sehnen. Ein von Fans entwickeltes Pokémon-MMORPG erfreute sich beispielsweise riesiger Beliebtheit, bis es von Nintendo eingestampft wurde. So ergeht es leider vielen Projekten dieser Art.

Als leidenschaftlicher Fan bleiben mir also nur noch die Remakes von Diamant und Perle sowie Legends Arceus, das mir beim Trailer schon Magenschmerzen bereitet.

Kaufen werde ich beides wahrscheinlich trotzdem. Pokémon funktioniert halt leider. (Maximilian Leschanz , 13.10.2021)