Donnerstagvormittag wurde ein bemerkenswerter Moment Wirklichkeit. Sebastian Kurz, bis vor wenigen Tagen noch Kanzler der Republik, wurde um 9.05 Uhr als Abgeordneter zum Nationalrat angelobt. Damit startet Kurz auch offiziell als Klubchef der ÖVP. Wenige Stunden vor seiner Angelobung meldete sich der nunmehr zweifache Altkanzler in einem Facebook-Video zu Wort. Darin bekräftigte er: "Ich bin kein Schattenkanzler."

Aus Sicht der türkisen Riege soll dieser Zustand aber nicht von Dauer sein. Sowohl der Altkanzler als auch seine engsten Vertrauen gehen davon aus, dass die Vorwürfe gegen Kurz in der Inseratenaffäre falsch seien und der Weg zurück ins Kanzleramt nur eine Frage der Zeit sei. Andererseits sind die Vorwürfe in dieser Causa nicht das Einzige, was den 35-Jährigen in diesen Tagen belastet. DER STANDARD gibt einen Überblick über Kurz' Krisen in aller Kürze.

Geteilte Klubführung in der ÖVP: Sebastian Kurz wird Fraktionsführer, der bisherige Klubchef August Wöginger kümmert sich wie bisher um das türkise Alltagsgeschäft.
Foto: Michael Gruber / EXPA / pictured

Die Inseratenaffäre: Mutmaßlich frisierte Umfragen

Seit vergangener Woche wird gegen Altkanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und sein Umfeld in der Inseratenaffäre ermittelt. Die Korruptionsstaatsanwälte hegen den Verdacht, dass Meinungsforscherin B. in deren Auftrag Umfragen teils frisiert haben soll. Diese seien im Boulevardblatt "Österreich" samt wohlwollender Berichterstattung abgedruckt worden – gegen Inserate. B. soll diese Umfragen zudem zuerst "verdeckt" über die Mediengruppe Österreich und dann als Studien mit "Scheinrechnungen" über das Finanzressort abgerechnet haben. Das sogenannte "B.-Österreich-Tool" sollte Kurz zunächst als ÖVP-Chef und dann als Kanzler in Stellung bringen, vermuten die Ermittler.

Konkret wirft man Kurz Untreue und Bestechlichkeit vor. Im Akt zur Hausdurchsuchung wird der Altkanzler unter anderem verdächtigt, den ehemaligen Generalsekretär des Finanzministeriums, Thomas Schmid, mit der Organisation des mutmaßlichen Umfragedeals beauftragt zu haben. Kurz habe sich auch über den Status des "B.-Österreich-Tools" berichten lassen, halten die Ermittler fest. Im September 2016 informierte Schmid Kurz beispielsweise darüber, dass die gesamte Politikforschung von Österreich zu B. wandere. "Damit haben wir Umfragen und Co im besprochenen Sinne :-))", schloss Schmid den Chat.

Falschaussage: Chats widersprechen Befragung

Die in den vergangenen Tagen aufgekommenen Vorwürfe wiegen zwar am schwersten, sie sind aber nicht die einzigen – denn neben der Causa Inseratenkorruption belastet Kurz noch ein anderes Verfahren. Dabei geht es um den Vorwurf, dass der Ex-Kanzler im Rahmen des Ibiza-U-Ausschusses im Zusammenhang mit Postenbesetzungen der Staatsholding Öbag falsch ausgesagt haben soll. So hat Kurz bei seiner Befragung behauptet, bei der damaligen Bestellung der Aufsichtsräte, darunter Alleinvorstand Thomas Schmid, nicht eingebunden gewesen zu sein.

Für die Justiz wirkt das offenbar unglaubwürdig, weil sich mehrere Chats zwischen Kurz und Schmid anders interpretieren lassen. Die beiden unterhielten sich ziemlich konkret über Postenbesetzungen und vereinbarten im Sommer 2018 dazu auch einen persönlichen Termin. Nachdem der Aufsichtsrat dann im Februar 2019 konstituiert war, bedankte sich Kurz bei Schmid. Wörtlich schrieb er: "Super danke vielmals!!!! Du Aufsichtsratssammler." Im weiteren Gesprächsverlauf schrieb Schmid an Kurz: "Das ist dort mein Hauptberuf – bitte mach mich nicht zu einem Vorstand ohne Mandate (…)." Worauf der Ex-Kanzler den mittlerweile ikonischen Satz retour schrieb und mit drei Küsschen versah: "Kriegst eh alles was du willst."

Kommt da noch mehr? Eine reale Angst unter Türkisen

Der Druck, der auf dem Altkanzler lastet, wird von Tag zu Tag größer. Und zwar auf zwei Ebenen: einerseits auf der strafrechtlichen Seite. Sollten sich die Vorwürfe nicht zeitnah aufklären, wäre es wohl alles andere als ausgemacht, dass Kurz wieder ins Kanzleramt zurückkehrt. Aus Sicht seines engeren Umfelds ist der Parteichef als neuer türkiser Klubchef im Nationalrat nur zwischengeparkt. Die Ermittlungen könnten allerdings im Extremfall einige Jahre dauern – egal, wie sie ausgehen. Auch deshalb werden in der ÖVP die Zweifel daran größer, dass sich Kurz davon politisch noch einmal erholt.

Die zweite Ebene ist die politische. Die Landeschefs trauen sich mittlerweile, zögerliche öffentliche Kritik an dem Sittenbild zu üben, das sich in den Chats zeigte. Dass Kurz auf lange Sicht in der zweiten Reihe verbleiben wird, gilt als extrem unwahrscheinlich. Denn mit seinem Rücktritt als Kanzler habe sich Kurz zwar für den Moment wieder Respekt verschafft, heißt es ÖVP-intern. Dass die bisherigen Chats aber noch längst nicht alles gewesen sein könnten, ist eine große Angst unter den Türkisen. Spätestens wenn bekannt werden sollte, dass die Ermittlungen noch weiter gefasst sind als bisher ersichtlich, wird Kurz wohl auch als Parteichef immer schwerer zu halten sein. (Vanessa Gaigg, Jan Michael Marchart, 14.10.2021)