Die Zapatistinnen in der Wiener Lobau.

Foto: Bert Eder

An diesem herbstlichen Nachmittag trafen in der Wiener Lobau Welten aufeinander: Zwei Dutzend Jugendliche aus Österreich und zehn indigene Frauen aus Mexiko sitzen sich auf Bierbänken gegenüber. Während die jungen Aktivisten aus Wien seit drei Monaten gegen den Bau der geplanten Stadtstraße protestieren, leisten die Frauen in schwarzer Kleidung seit 1994 Widerstand gegen den mexikanischen Staat. Der Aufstand der Zapatisten, dem die Unterdrückung der Indigenen und die Forderung nach Autonomie zugrunde lag, hatte damals weltweit Schlagzeilen gemacht. Umso stiller wird es im Sitzkreis, als die echten Rebellinnen das Wort ergreifen.

Erfolgreicher Widerstand

Eine im Sommer gestartete Europareise führte die Zapatisten im September nach Wien. Bei ihrem Besuch in der Lobau hat Comandante Libertad – den wahren Namen geben Zapatisten nie preis –, eine klare Botschaft: "Wenn wir uns nicht vereinigt hätten, hätte uns der Staat schon längst niedergemäht." Vom "mal gobierno", der schlechten Regierung, sprechen sie, wenn der mexikanische Staat gemeint ist, im Gegensatz zur guten Regierung, die man selber aufzubauen versucht.

Gelungen ist ihnen das im südmexikanischen Chiapas: Dort traten die Zapatisten und Zapatistinnen das erste Mal am Silvesterabend 1994 vor die Öffentlichkeit. Ein Tag vor Inkrafttreten des Freihandelsabkommens Nafta zwischen den USA, Kanada und Mexiko erklärten sie dem mexikanischen Staat den Krieg. Sie besetzten die Stadt San Cristóbal de las Casas und forderten ein Ende der Ausbeutung der Indigenen, sowie "tierra y libertad" (Land und Freiheit). Gelöst ist der Konflikt bis heute nicht. Immer wieder werden ihre Dörfer von paramilitärischen Angriffen heimgesucht. Die von ihnen geforderte Autonomie konnten sie sich dennoch erkämpfen: 43 Dörfer, sogenannte Caracoles, stehen heute unter indigener Selbstverwaltung. Dieser Erfolg machte sie zu Ikonen der Linken weltweit.

Keine Interviews erwünscht

Ein Interview möchten die Zapatistinnen dennoch nicht geben. "Mit bürgerlichen und kapitalistischen Medien wird nicht gesprochen", lautet die Antwort auf Anfragen. Das hängt mit jenem Bild zusammen, das mexikanische Medien seit jeher von den vermummten Indigenen aus Südmexiko zeichnen. "Die Medien haben uns immer nur attackiert", sagt Libertad. Sie haben ihre eigenen gegründet.

Vertreterinnen des Nationalen Indigenen-Kongresses (CNI) mit Marichuy (rechts) im WUK.
Foto: Bert Eder

Gesprächiger zeigen sich die Frauen des CNI (Nationaler Indigenen-Kongress), die die Zapatistinnen auf ihrer Reise begleiten. Sie nahmen sich eine halbe Stunde Zeit, um im Wiener WUK Fragen des STANDARD zu beantworten. Der Kongress versteht sich als Interessenvertretung für die 16 Millionen Indigenen Mexikos. "Egal ob Mayas im Süden oder Nahuas im Osten – die Probleme der indigenen Gemeinschaften ähneln sich", sagt die als "vocera" (Sprecherin) bekannte Marichuy – Mexikos erste indigene Präsidentschaftskandidatin im Jahr 2017.

Neoliberale Kolonialisierung

Kraftwerke, Industrieparks, Textilkonsortien oder der Mayazug: Von der mexikanischen Regierung als wichtige Infrastrukturprojekte betitelt, müssen Indigene im ruralen Mexiko diesen Bauten weichen – und dafür ihre Häuser und Felder aufgeben. "Das wird uns dann als Fortschritt verkauft", sagt Marichuy. Weil sich Dorfbewohner diesen Plänen widersetzten, kam es bereits zu Verhaftungen. Von anderen fehle jede Spur. Dabei hätten diese Projekte katastrophale Folgen für die Betroffenen, sagt Marichuy. Beim Zugprojekt, bei dem auch die Deutsche Bahn beteiligt ist, stamme nur der Name von den Maya, gebaut und betrieben wird die 1.500 Kilometer lange Strecke von privaten Firmen und vom Militär.

Die Regierung argumentiere, dass der Zug teils auf bereits bestehenden Schienen fahren werde, wodurch die Bevölkerung wie vor der Einstellung des Personenverkehrs 1997 ihre Waren zum Markt bringen könne. Das sei aber falsch: Hinter dem Megaprojekt stehe der Plan, die Region für den Tourismus zu erschließen. Dadurch würde sich das Leben der Betroffenen drastisch verändern: für sie seien keine Plätze im Zug, sondern Jobs in der Tourismusindustrie vorgesehen, sagt Marichuy. Profitieren würden letztlich nur die Investoren. Der linke Präsident Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, hat jedenfalls erklärt, der Zug käme, "und wenn es regnet, blitzt oder donnert".

Gebrochene Versprechen

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Der linke Präsident bei seiner Amtseinführung im Jahr 2018. Nun sind die widerständigen Indigene für ihn "linksextreme Konservative".
Foto: EDGARD GARRIDO

AMLO präsentiert sich als Fürsprecher der Indigenen: Bei seiner Amtseinführung kniete er demütig vor indigenen Vertretern nieder, von Spanien verlangte er eine Entschuldigung für die Kolonialisierung Mexikos. Außerdem ernannte er einen indigenen Anwalt zum Leiter des Nationalen Instituts der Indigenen Völker (INPI), der sich auf gesetzlicher Ebene für eine Reform des Indigenengesetzes stark machen soll. Dieses sieht das Recht der 68 indigenen Ethnien auf Selbstbestimmung und Autonomie vor. Verhandelt wurde es 1996 von den zapatistischen Rebellen nach deren Aufstand mit der Regierung – es trat nie in Kraft.

Auf diese Autonomie pochen die von den "Megaprojekten" betroffenen Gemeinden. Als "Kind des Neoliberalismus" verteufelte AMLO einst das Gaskraftwerk in Huexca, Morelos. Dieses soll mit importiertem Fracking-Gas aus den USA betrieben werden, das durch eine Pipeline nahe des Vulkans Popocatepetl transportiert wird. Die indigenen Dorfbewohner stellten sich quer, das Kraftwerk würde ihnen das Wasser für die Felder abzweigen. Als Oppositionsführer hatte ihnen AMLO versprochen, das Projekt stillzulegen. Als Präsident wechselte er die Seite. Nun sei das Projekt essenziell für die Energieversorgung und die widerspenstigen Bewohner "linksextreme Konservative". Vier Kugeln töteten im Jahr 2019 den indigenen Umweltaktivisten Samir Flores, der sich gegen das Kraftwerk einsetzte.

Wasser aus Flaschen

Zurück in der Wiener Lobau: "Ich bin überrascht von eurer Arbeit, die ihr hier leistet", spricht eine Zapatistin zu den jungen Wiener Aktivistinnen, die neben Wohnhäusern und und Wiesen ihr Protestcamp errichtet haben. Was ihr Eindruck von Wien ist? Hier sei alles schön, alles gepflegt, die Gärten, die Pflanzen und die Blumen – sogar auf dem Klo könne man das Wasser trinken. "Wir kommen aus Dörfern, wo das Wasser verschmutzt ist ", sagt eine andere Frau ins Mikrofon. Die Regierung hat dafür eine recht eigenwillige Lösung parat: "Sie sagen zu uns, dass wir einfach Wasser in Flaschen kaufen sollen." Vom Staat erwarten sich die mexikanischen Besucherinnen gar nichts mehr.

Diese zehn Zapatistinnen und indigenen Widerstandskämpferinnen sind Teil einer 177-köpfigen Delegation, die im September nach Wien kam.
Foto: Elisa Tomaselli

Dieses Versagen des Staates, seinen Bürgerinnen grundlegende Rechte wie medizinische Versorgung oder Schutz vor kriminellen Banden zu garantieren, war einer der Gründe, sich in den Achtzigern im Untergrund zu organisieren. Dabei waren ihnen die Bewohner aus verschiedenen Dörfern in Chiapas behilflich, erzählt die Zapatistin Libertad, "bei uns waren es die Frauen, die ihre Männer dann rekrutiert haben".

Zapatistische "Reise fürs Leben"

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Marichuy (Mitte) im Jahr 2017 in einem autonomen zapatistischen Dorf – ihre Kandidatur wurde von den Zapatisten unterstützt.
Foto: Eduardo Verdugo

Dass sich die Zapatisten nun in Europas Städten mit sozialen Bewegungen austauschen und vernetzen, geht auf ein historisches Ereignis zurück, das noch weiter zurückliegt. Im August diesen Jahres jährte sich der Fall des Aztekenreiches zum 500. Mal, wodurch der blutige Kolonialismus in Mexiko Einzug hielt. Am 22. Juni erreichte daher ein zapatistisches Schiff nach einer 52-tägigen Seereise Galizien ‒ genau in dem Hafen, wo Kolumbus damals ankam. 177 Zapatistinnen und indigene Widerstandskämpferinnen folgten im September.

"Wir wurden nicht erobert. Wir sind immer noch hier" ist daher ihre Kampfansage, die sie quer durch Europa tragen. So lange haben wir den Rassismus, die Verachtung und Enteignung über uns ergehen lassen, sagt CNI-Vertreterin Isabel, eine Otomí aus Mexiko City. In der Forderung nach Arbeit und einer würdigen Unterkunft besetzte sie gemeinsam mit anderen im Oktober 2020 das Institut der Indigenen Völker in der Hauptstadt. "Was wir verlangen, ist so wenig von dem, was sie uns eigentlich schulden." (Bert Eder, Elisa Tomaselli, 9.11.2021)