Die Impfzentren in ganz Italien erleben derzeit einen beträchtlichen Andrang: Zahlreiche Ungeimpfte beschaffen sich einen Last-Minute-Termin, um ab Freitag nach dem Gang zum Büro oder zur Fabrik nicht gleich wieder nach Hause geschickt zu werden. Aber besonders glücklich sehen dabei die wenigsten aus. Der Speditionsangestellte Vincenzo Marini in Rom bezeichnet die Grüner-Pass-Pflicht am Arbeitsplatz als "Erpressung": Er sei zwar nicht grundsätzlich gegen das Impfen, "aber so kann der Staat nicht mit seinen Bürgern umspringen", betont der 48-Jährige. Dass zum Arbeiten statt einer Impfung auch ein negatives Testresultat ausreichen würde, helfe ihm auch nicht weiter: "Mich würden diese Tests über 150 Euro pro Monat kosten. Das kann ich mir mit meinem Lohn von 1.300 Euro nicht leisten." Aber noch weniger könnte er es sich leisten, wegen des fehlenden grünen Passes nicht zu arbeiten: Die Lohnzahlung würde in diesem Fall umgehend eingestellt.

3,5 Millionen Ungeimpfte

Mit der Grüner-Pass-Pflicht am Arbeitsplatz geht Italien weiter als alle anderen europäischen Länder – sie kommt praktisch der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gleich. Von der Maßnahme betroffen sind 23 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, von denen etwa 3,5 Millionen nicht geimpft sind. Etwa eine halbe Million unter den nicht Geimpften sind von Covid genesen und haben deshalb einen grünen Pass. Hinzu kommen diejenigen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können und von der Zertifikatspflicht befreit sind. Alles in allem kann davon ausgegangen werden, dass knapp drei Millionen italienische Arbeitnehmer weder geimpft noch genesen sind – und deshalb ihrem Chef Freitagfrüh ein negatives Testresultat vorlegen müssen, falls sie nicht auf Arbeit und Lohn verzichten wollen.

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Millionen Italiener müssen ab Freitag Tests vorweisen, um arbeiten zu dürfen.
Foto: AP/Medichini

Millionen Tests

Und damit beginnen die Probleme: Wenn nämlich drei Millionen Personen alle zwei Tage einen neuen Test machen müssen, dann bedeutet das, dass in Italien ab Freitag täglich 1,5 Millionen Tests durchgeführt werden müssten. Dafür reichen die Testkapazitäten aber bei weitem nicht aus, etliche Regionalregierungen haben denn auch längst Alarm geschlagen. Gefordert wird unter anderem, dass die Tests nicht zwei, sondern drei oder mehr Tage gültig sein sollen, um die Testzentren zu entlasten. Die Rechtsparteien Lega und Fratelli d'Italia sowie neuerdings auch der Gründer der Fünf-Sterne-Protestbewegung, Beppe Grillo, verlangen außerdem, dass die Tests für die Nichtgeimpften gratis abgegeben werden sollen.

Zermürbungstaktik

Das haben Regierungschef Mario Draghi und sein Gesundheitsminister Roberto Speranza bisher kategorisch abgelehnt: Sie wollen mit der Grüner-Pass-Pflicht die Impfwilligkeit erhöhen und setzen auf die zermürbende Wirkung von kostenpflichtigen Tests, die alle zwei Tage wiederholt werden müssen. Ob und wie lange Draghi und Speranza diese harte Linie aufrechterhalten können, bleibt abzuwarten, denn es droht der Ausfall strategischer Infrastruktur.

In Triest beispielsweise, wo 40 Prozent der Hafenarbeiter nicht geimpft sind, dürfte der Hafenbetrieb bereits am Freitag zusammenzubrechen, und in den Häfen von Genua, Neapel und Palermo könnte es zu Solidaritätsstreiks der Hafengewerkschaften kommen.

Produktionsausfälle drohen

Probleme mit nichtgeimpften Angestellten und Arbeitern haben bei weitem nicht nur die Häfen, sondern unzählige große und kleine Betriebe – besonders jene, bei denen die Auftragsbücher voll, die Personaldecke aber dünn ist: Diesen Unternehmen drohen Produktionsausfälle und der Entzug von Aufträgen. Um ihnen entgegenzukommen, hat die Regierung es den Betrieben grundsätzlich erlaubt, die Tests selber und für die Belegschaft gratis durchzuführen. Unter anderem das größte Stahlwerk des Landes, die Ilva im süditalienischen Taranto, hat bereits angekündigt, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Bei der Ilva sind 1.600 der 8.000 Arbeiter nicht geimpft – die Kosten für die Tests muss das Unternehmen tragen.

Radikalisierung durch Impfpflicht

Sorgen machen sich aber nicht nur Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sondern inzwischen auch die Regierung, denn die Impfpasspflicht hat die Impfgegner deutlich radikalisiert. Die Impfbereitschaft in Italien ist zwar überdurchschnittlich, und inzwischen haben bereits über 80 Prozent der Bevölkerung über zwölf Jahre die zweite Impfdosis erhalten. Aber am vergangenen Samstag haben in Rom über 10.000 Impfgegner gegen die Regierung demonstriert, wobei es, geschürt durch rechtsextreme Gruppierungen, zu schweren Krawallen gekommen ist. Bisher hatten an solchen Kundgebungen kaum mehr als wenige hundert Personen teilgenommen, manchmal auch nur ein paar Dutzend. Die Grüner-Pass-Pflicht am Arbeitsplatz hat die Intensität der Proteste stark erhöht – und bei künftigen Ausschreitungen wird es nicht hilfreich sein, dass auch tausende Polizeibeamte keinen grünen Pass besitzen und deshalb nicht im Dienst sein werden. (Dominik Straub aus Rom, 14.10.2021)