Demonstrationen im Vorjahr nach der Ermordung Samuel Patys. Heuer soll es in den Schulen eine Lernstunde geben, die sich mit dem Thema Meinungsfreiheit und dem Mord an dem Lehrer befasst.

Es wird keine leichte Aufgabe für die französischen Lehrer: Eine Stunde lang haben sie am Freitag in ihren Klassen über das Thema "Meinungsäußerungsfreiheit" zu diskutieren. So auch in den Schulen des Pariser Vororts Conflans-Sainte-Honorine: Dort war vor einem Jahr der Geschichtslehrer Samuel Paty von einem 18-jährigen Tschetschenen niedergestochen und enthauptet worden, nachdem er Mohammed-Karikaturen des Satiremagazins "Charlie Hebdo" im Unterricht thematisiert hatte. Der Täter wurde erschossen; gegen 16 mutmaßliche Mitläufer wird noch ermittelt.

Heute versucht Patys ehemalige Mittelschule Bois d'Aulne (Erlenholz) wieder Fuß zu fassen. Im jährlichen Unterrichtsprogramm findet die Schreckenstat allerdings keinen Niederschlag. Presseanfragen beantwortet die Schuldirektorin nicht, was man ihr nachsehen kann. Nur gerüchteweise wird kolportiert, dass ein Dutzend Schülerinnen und Schüler weiterhin psychologisch betreut würden – Offizielles gibt es nicht, es gilt der Persönlichkeitsschutz; ein Drittel der Lehrer habe die Schule seit der Schreckenstat verlassen.

Umstrittene Lerneinheit

Bildungsminister Jean-Michel Blanquer zögerte lange, den französischen Schulen eine Spezialstunde "Samuel Paty" zu verordnen. Vor einem Jahr hatte sich die Regierung wohlweislich mit einer Schweigeminute an allen Schulen begnügt. Selbst dagegen wurden 400 Verstöße verzeichnet – von pubertären Lachern bis zur vorsätzlichen "Terrorverherrlichung", wie der strafrechtliche Jargon lautet. Ein Musiker namens Maka wurde zu mehreren Monaten unbedingter Haft verurteilt, weil er in einem Song gerappt hatte: "Zerschneiden wie Samuel Paty, ohne Empathie".

Der Mörder Abdullah A. hatte sich vom Video eines Vaters inspirieren lassen, dessen Tochter fälschlicherweise behauptet hatte, sie sei in Patys fraglicher Unterrichtsstunde dabei gewesen. A., Sohn einer Flüchtlingsfamilie, der nicht als islamistischer Gefährder gelistet war, obwohl er sich per Handy ein halbes Jahr lang mit Jihadisten in Syrien ausgetauscht hatte, publizierte nach der Tat ein Video mit dem abgeschnittenen Kopf des Lehrers und schrieb dazu: "Von Abdullah, Diener Allahs, für Macron, den Anführer der Ungläubigen: Ich habe einen deiner Höllenhunde exekutiert, der es gewagt hat, (den Propheten) Mohammed zu erniedrigen."

Stille Wut, statt keiner Angst

Schaut man auf die vergangenen zwölf Monate zurück, fällt vor allem auf, dass die französische Öffentlichkeit auf Patys Mord ganz anders reagierte als nach der Anschlagsserie von 2015 auf die "Charlie"-Redaktion und das Bataclan-Konzertlokal. Damals war eine Million Franzosen in einem kollektiven Elan auf die Straße gegangen; schockiert, aber sehr bestimmt stellten sich die Bürger den Islamisten entgegen und schrieben auf Kartonschilder, sie hätten "même pas peur" (schon gar keine Angst).

Nach der Ermordung Patys gab es kaum Tränen, dafür wortlose Bestürzung und Wut über die barbarische Tat, die aus dem Krieg in Syrien Europa erreicht hatte. "Unfassbar", sagten die meisten, um Worte ringend, und dann: "Es hört ja nicht mehr auf." Das klang allerdings nicht fatalistisch – eher nach Faust im Sack.

Neue Delikte im Gesetzbuch

Präsident Emmanuel Macron spürte, dass im Land etwas gärte. Er ließ seinen Innenminister Gérald Darmanin das bekannte Komitee gegen Islamophobie (CCIF) wegen dessen Nähe zu einem Anti-Paty-Agitator auflösen. Dazu aktivierte er ein bereits vorher beratenes Gesetz "zur Stärkung republikanischer Prinzipien". Es schuf unter anderem einen Tatbestand für verbale oder physische Gewalt gegen Staatsbedienstete.

Der Erlass war noch nicht in Kraft, da wurde im April in Rambouillet, einem anderen beschaulichen Vorstädtchen von Paris, eine Polizistin zu "Allahu akbar"-Rufen erstochen. Der Täter, ein depressiver 37-jähriger Tunesier, hatte sich über das Internet radikalisiert.

Flugs erfanden Macrons findige Juristen ein neues, mit Algorithmen feststellbares Delikt, den Besuch extremistischer Webseiten. Dem Dachrat des Islam (CFCM) rang er eine "Imam-Charta" ab, in der sich die meisten Imame verpflichteten, nur noch republikkonform zu predigen. Im Sommer schuf Macron zudem ein "interministerielles Laizismusgremium", das unter anderem zum Ziel hat, das säkulare Prinzip an Schulen und im Sport zu verankern.

Beliebte Putschdrohungen

Vielen Franzosen klingt das aber noch immer zu administrativ oder, genauer, zu lasch. Seit Patys Tod glauben sie nicht mehr an neue Gesetze und Verbote, Chartas und Instanzen. Sie übersehen zwar: Mithilfe der schärfsten Antiterrorgesetzgebung Europas erzielt die französische Polizei regelmäßig Fahndungserfolge. Erst im September machte sie einen 27-jährigen Islamisten dingfest, der sich eine Kalaschnikow aus den USA hatte liefern lassen. Offenbar wollte er gerade zur Tat schreiten.

Die Verhaftung bestärkt viele in der Nation aber nur noch im Gefühl einer anhaltenden, nicht zu besiegenden Bedrohung. Die Frage ist nur, wo und wann es weitergehen wird. Und jetzt, ein Jahr "nach Samuel Paty", findet diese Stimmung ihren politischen Ausdruck. Ein erstes Indiz gab es im Frühling, als eine Gruppe pensionierter Generäle ein Pamphlet gegen die "Banlieue-Horden" verbreitete und dagegen eine Art Militärputsch empfahl. Das Überraschende daran war, dass sich in einer Umfrage 58 Prozent der Franzosen mit dem Inhalt der Brandschrift einig sahen.

Dunkle Wolken

Die linksliberale Zeitung "Le Monde" warnte, der Paty-Mord habe offensichtlich "einen Bruch in der öffentlichen Meinung" bewirkt. Sichtbar wird das im einsetzenden Präsidentschaftswahlkampf: Er wird völlig dominiert von der Thematisierung ausdrücklicher Islam- und Migrationsgegner wie Marine Le Pen oder Eric Zemmour. Ihr Erfolg zwingt die übrigen Kandidaten zum Nachziehen: Der konservative Kandidat Michel Barnier plädiert für ein Einwanderungsmoratorium, seine gemäßigtere Parteifreundin Valérie Pécresse für Einwanderungsquoten.

Die Linke schweigt, tief gespalten zwischen harten Laizisten und Migrationsbefürwortern. Für sie ist das Thema "Samuel Paty" eine politische Falle. Vergeblich versuchen rot-grüne Kandidaten, wirtschaftspolitische Themen zu lancieren. Nichts hilft: Patys Ermordung hängt dunkel und unverarbeitet über der Präsidentenwahl im kommenden April. (Stefan Brändle aus Paris, 15.10.2021)