Interesse groß: Schallenberg erstmals als Kanzler in Brüssel.

So ist es üblich in der EU: Wenn frisch gewählte Premiers in der Brüsseler EU-Kommission ihren "Antrittsbesuch" absolvieren, werden sie von der Chefin des Hauses bei einem "Doorstep" schon am Eingang begrüßt. Ursula von der Leyen hat diese protokollarische Übung natürlich von ihren Vorgängern übernommen.

Und in den Momenten der ersten Begegnung zeigt sich dann oft an Kleinigkeiten, wie das künftige Verhältnis und die Zusammenarbeit ablaufen könnten. Jean-Claude Juncker hatte es dabei zu einer Meisterschaft gebracht in der Art, wie er seine Gäste küsste, umarmte oder ihnen nur die Hand hinstreckte. Eines seiner "Bussis" für Sebastian Kurz war legendär. Er verfehlte die Wange des Bundeskanzlers, weil dieser sich schüchtern fernhielt.

Die Deutsche von der Leyen drückt ihren Grad der Zuwendung weniger sichtbar, dafür aber umso mehr in Worten aus. So war es auch, als Alexander Schallenberg (ÖVP) am Donnerstag als "Neuer" aus Österreich beim Berlaymont-Gebäude vorfuhr, dem Sitz der Kommission.

Europa von der Pike auf gelernt

Kein Wangenkuss: "Ich freue mich sehr, Sie begrüßen zu dürfen", sagt die Präsidentin, "es ist ein starkes Signal, dass Ihr erster Auslandsbesuch Sie in das Herz Europas führt." Dann wird er taxiert: "Sie sind ja ein ausgewiesener Europakenner, haben am Europakolleg in Brügge studiert", fährt sie fort. Das ist eine Eliteuniversität, an der viele EU-Größen Station gemacht haben. Der österreichische Kanzler, fährt von der Leyen fort, habe "von der Pike auf gelernt", worum es in Europa geht.

Schallenberg, mit dem gemeinsam sie "viel vorhat", wie sie sagt, fühlt sich sichtlich geehrt. "Europa ist Teil meiner DNA", gibt er zurück. Seit zwanzig Jahren habe er "mit und für Europa" gearbeitet, nun sei er gekommen, um "tatsächlich ein ganz bewusstes Signal" zu setzen: "Wir sind und bleiben ein verlässlicher Partner."

DER STANDARD

Endlich raus aus Wien

Er sieht ein wenig müde aus, aber man merkt, wie wohl er sich fühlt, dem innenpolitischen Treiben in Wien für ein paar Stunden entkommen zu sein. In der Materie routiniert, nennt er die kommenden Aufgaben: Wirtschaftsaufschwung, die Pandemie, "die noch nicht im Rückspiegel ist", die Energiepreise, alles Themen, die auch von der Leyen anführt, wenn sie an die Umsetzung von Wiederaufbauplan und Green Deal erinnert.

Dann ziehen sich die beiden zu einem Vier-Augen-Gespräch zurück. Ohne Mittagessen, das Schallenberg im Anschluss an das Treffen mit der Präsidentin auf der anderen Seite der Rue de la Loi einnimmt – dort trifft er nämlich den Ständigen Ratspräsidenten Charles Michel. Auch dort betont der Kanzler, dass Österreich "ein konstruktiver und engagierter Partner sein" werde.

War da was?

Über die Regierungskrise in Wien, den Rückzug von Vorgänger Sebastian Kurz (ÖVP) sei zwar gesprochen worden, aber auch nicht sehr ausführlich, erzählt er hinterher. Im Gespräch mit Journalisten betont Schallenberg sein persönliches Credo: Er habe "den Wunsch", bei der österreichischen Europapolitik "sehr aktiv reinzugehen und mitzugestalten".

Das klingt so, als habe er noch gar nicht realisiert, dass es an ihm – dem Regierungschef – liegt, sich diesen "Wunsch" zu erfüllen; dass er es entscheiden kann. Ausgerechnet während er zu von der Leyen fährt, passiert im Kanzleramt in Wien ein Hoppala: Ein Tweet, der seinen ersten Besuch in Brüssel verkündet, wird versehentlich vom Account Kurz' verschickt statt von seinem eigenen. Das wird vom Social-Media-Team zwar kurz darauf bemerkt und korrigiert, die Screenshots werden da aber schon fleißig Twitter auf und ab gepostet. Bei einer Pressekonferenz muss Schallenberg danach sogar Auskunft dazu geben. Es sei ein "technischer Fehler" passiert, den man nachsehen müsse – das alles deute nicht darauf hin, dass er sich "nicht ausreichend emanzipiert" habe.

Klare Worten zu Polen und Ungarn

Es gibt viele Fragen an Schallenberg. Bei der Migrationspolitik will er den bisherigen Kurs beibehalten, die EU-Außengrenzen müssten geschützt werden. Deshalb müsse die Gemeinschaft akut gerade Litauen helfen, wo es viele illegale Grenzgänger gibt. Und er hat auch eine Zahl parat, warum Österreich zu Recht auf geregelte Migration dränge: Es gebe 2021 bereits 24.000 Asylanträge, ein Mehrfaches im Vergleich zum Vorjahr.

Und was ist mit Polen und Ungarn und deren Missachtung von EU-Recht und Grundrechten? Schallenberg spricht sich klar dafür aus, dass die EU-Kommission von dem Recht Gebrauch macht, Milliardensubventionen zu verweigern, denn "bei den Werten und der Rechtsstaatlichkeit" gebe es nichts zu verhandeln. Es sei "eine brandgefährliche Entwicklung", wenn zum Beispiel Polen den Europäischen Gerichtshof nicht als oberste Instanz anerkenne.

Ernüchterter EU-Freund

Der Kanzler spult ein Thema nach dem anderen ab, erklärt die weitgehend bekannten Positionen Österreichs, etwa dass man beim Stabilitätspakt für strenge Regeln eintrete, Schuldenmachen nicht unbegrenzt bleiben dürfe, sondern mit Reformen verbunden sein müsse. Impfstoffverteilung, Migration, Afghanistan, Schallenberg fühlt sich wohl, wenn er über die Dinge im EU-Konnex sprechen kann. Bei einer Pressekonferenz später sollte er sogar von einem "Homecoming" sprechen.

Gefragt, was denn anders sei seit seiner Zeit als Rechtsreferent vor 20 Jahren in der Ständigen Vertretung in Brüssel, wird er nachdenklich. Damals habe es nur 15 Mitgliedsstaaten gegeben, "das waren die Heydays der EU". Man habe gedacht, die Türkei und Russland würden einer Mitgliedschaft nahekommen und das auch wollen. Heute sei der Aufbruch von damals "der Ernüchterung" gewichen. "Wir müssen mit viel mehr Pragmatismus und Realismus an die Dinge herangehen." Immerhin ist seine Meinung zur Union noch immer unverändert: "Wenn es die EU nicht gäbe, müsste man sie erfinden", sagt Schallenberg dann noch bei der Pressekonferenz. Er wolle "alles tun, um eine neuerliche Teilung des Kontinents zu verhindern", hatte er da schon vorher angekündigt. Es klingt nach sehr, sehr viel Arbeit. (Thomas Mayer aus Brüssel, 14.10.2021)