Aufschub statt Veränderung: Claudia in "Jetzt oder morgen".

Foto: Takacs Filmproduktion, Steinbrecher

Die Plätze in der Gemeindebauwohnung in Wien-Simmering sind meist klar verteilt. Mutter Gabi sitzt im Bürostuhl vor dem Computer, Bruder Gerhard lungert auf der Couch herum, und Claudia, die zentrale Protagonistin von Jetzt oder morgen, bewegt sich wie ihr vierjähriger Sohn Daniel irgendwo dazwischen. Alle außer dem Kind rauchen. Fast überflüssig zu sagen, dass man sich auf diesen wenigen Quadratmetern auf dünnem Eis bewegt. Der Tonfall ist auf eine äußerst wienerische Weise rau, ohne verletzend zu sein. Man schenkt sich nichts, braucht einander aber. Bekommt ein Geburtstag nicht die erwartete Aufmerksamkeit, läuft das Fass schnell über.

Polyfilm Verleih

Lisa Webers Dokumentarfilm hat mit dieser arbeitslosen, von Notstandshilfe lebenden Familie ein klar umrissenes Sujet. Keine Sekunde lang sozialvoyeuristisch, liegt die Besonderheit ihres Blicks in bedingungsloser Aufmerksamkeit – erst daraus resultiert die sonst oft ein wenig inflationär verwendete Empathie. Hinzuschauen heißt hier, Widersprüche zu erkennen und auch auszuhalten: Warum wird Claudia in all der Zeit, die sie Weber begleitet, sich nicht dazu aufraffen, ihren Hauptschulabschluss nachzuholen? Die Trägheit sitzt tief, der Aufschub jeder Entscheidung ist wohl auch deswegen so leicht, weil die Motivation von außen fehlt.

Die Zeit wird konturlos, man muss sie halt füllen. Gerhard wird auch beim virtuellen Lkw-Fahren nicht so schnell fad, Claudia ist als junge Mutter – sie wurde mit 14 schwanger, ein wesentlicher, aber nicht der einzige Grund für ihre prekäre Situation – mit dem kleinen Daniel beschäftigt. Weber kannte sie schon davor, was auch die Intimität des Films erklärt, die die Montage allerdings nur an hervorgehobenen Momenten so weit vorantreibt, dass man die Regisseurin auch hört oder sogar sieht. An Claudias Geburtstag ist sie aber die Erste, die ihr Glückwünsche zuflüstert. Das bricht ein Stück weit die Illusion der Unmittelbarkeit auf, der sich weniger reflektierte Milieu- und Alltagsbeschreibungen gern hingeben.

Von der Politik vergessen

Um sich aus stereotypen Rollen, also zugewiesenen Identitäten, zu befreien, schreibt der französische Soziologe Didier Eribon, braucht es nicht nur Arbeit am Selbst, sondern auch persönliche Askese, die Bereitschaft, sich zu verwandeln. Die politische Dimension von Jetzt oder morgen liegt darin, dass der Film auch zeigt, wie dieses emanzipatorische Projekt an den Gewohnheiten einer Klasse scheitert, die die Politik nur mit Ressentiments bedient. Die FPÖ steht in der Familie – mit weniger großer Überzeugung beim Bruder – zur Drehzeit noch hoch im Kurs. Am Arbeitsmarkt fehlen offenbar Initiativen, Schwellen abzubauen, um den Einstieg zu erleichtern.

Weber liegt es jedoch fern, Ursachen zu benennen, sie liefert vielmehr Anschauungsmaterial dafür, warum der Leidensdruck in der Warteschleife nicht kleiner wird – Claudias Schuldenlast bei den Wiener Linien wächst, bei ihren AMS-Terminen fühlt sie sich ignoriert. Dazwischen gibt es aber durchaus Momente, in denen die Familie bereit erscheint, gegen die Not halbherzig vorzugehen. So hart die Konfrontationen mitunter geführt werden – ein Schreiduell mit dem Vater des Kindes sticht hervor –, so sehr versperrt sich der Film gegen das Gefühl der Ausweglosigkeit.

Selbst im Gefühlskitsch von Mariah Careys und Whitney Houstons When You Believe, bei dem Claudia inbrünstig mitsingt, klingt noch Hoffnung durch, dass es auch anders gehen könnte. (Dominik Kamalzadeh, 15.10.2021)