Berauscht von der Liebe und in freudiger Erwartung – Helene Fischer veröffentlicht ihr achtes Album: "Rausch".

Lina Tesch

Hat sie im Lockdown auf Schockrock umgelernt? Führte sie die Isolation in die Abhängigkeit? Ist ihr Bier deppert? – Heute erscheint Rausch. Der Titel überrascht insofern, als er das achte Album der Helene Fischer bezeichnet – und deshalb gilt natürlich die Unschuldsvermutung. Schließlich rückt der Pressetext auch gleich jede verwerfliche Deutung des Titels zurecht und lässt wissen: "Die Liebe ist das zentrale Thema ihres Albums." Derselbe Text stellt klar: "Rausch ist nicht nur ein Gefühl."

Na ja, meistens schon, aber es stimmt: Hin und wieder materialisiert er sich gallig schon auf dem Heimweg, doch auch diese Auslegung wäre irreführend, gilt doch Schlager als Contenancehochleistungsfach. Das Lied Rausch, also der Titelsong, offenbart sich schließlich derart: "Ich fühl mich wie im Rausch / ein Sturm auf meiner Haut / Du musst nichts sagen / was du willst, will ich auch." Es fallen Wörter wie "Lust", die Rede ist von "100.000 Explosionen", aber hallo. 50 Shades of Helene, ihr Kinderlein kommet – dazu Schlager von der Stange.

Kirsche auf der Zuckertorte

Da passt es gut, dass die 37-jährige Interpretin erst zu Monatsbeginn verkündet hat, guter Hoffnung zu sein. Seitdem überschlagen sich Special-Interest-Magazine wie Gala oder Bunte angesichts dieses einzigartigen Wunders der Natur. Wenn nicht doch noch amouröse ÖVP-Chats auftauchen, wird das als die Frohbotschaft des Jahres 2021 in die Geschichtsbücher eingehen: Fischers Mutterfreuden als Kirsche auf einer Zuckertorte namens Heile Welt. Denn diese beschwört der Schlager mit allen Mitteln. Wobei Fischer damit immer wieder bricht.

"Die Sängerin zeigt auch die Schattenseiten", vorbereitet der Pressetext das Publikum auf das Schlimmste: auf das Ende der Liebe, die Trennung, den Sodbrand nach dem Rausch. Arg, doch das passt zum Plan.

Helene Fischer (Official)

Längst wird man Fischer nicht gerecht, wenn man sie bloß Schlagersängerin hieße. Zwar bleibt sie dem Fach textlich gewogen, sie überfordert ihr Publikum nicht mit übertriebenem Mut zum Gliedsatz oder perfider Subtilität. Zwischen den Zeilen ist bei ihr nichts zu finden. Sogar dahinter steckt Strategie.

Vom Pickelgesicht bis zum Opa

Wortwürste vertragen sich nicht mit der Anforderung, diese Lieder live nicht nur zu singen, sondern sie mit den Mitteln des Ausdruckstanzes, des Bodenturnens und luftakrobatischer Einlagen zu vermitteln. Lächelnd, natürlich.

In diesem Extremsport hat Fischer das traditionelle Terrain des Schlagers mit seinen Faserschmeichlern im Sakko mit Stecktuch formal überwunden. Längst spielt sie eine zeitgenössische Vermengung von Stilen – von technoiden Charakteristika über Hip-Hop-Beats und Gitarrenrock bis zur Dackelblickballade aus den High Heels einer sogenannten Powerfrau heraus: So macht sie ein Angebot an die ganze Familie, vom Pickelgesicht bis zum Opa.

Helene-Ultras

Dementsprechend umfangreich fällt Rausch aus: 18 Lieder auf der Normalverbraucher-CD, 24 auf der Deluxe-Version für die Helene-Ultras, wie sich ihre härtesten Fans nennen.

Eine stilistische Erweiterung erfährt das System Fischer mit dem Lied Vamos A Marte. Dafür hat sie Luis Fonsi als Duettpartner unter Vertrag genommen; der Amerikaner mit einer Wiege in Puerto Rico und einer Jugend in Florida hatte 2017 mit dem Song Despacito einen Welterfolg. Man kann das Duett wohl als Versuch Fischers sehen, die Grenzen des deutschsprachigen Publikums zu überwinden. Das ist der in Sibirien geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Sängerin ohnehin längst erlegen, der Begriff Superstar ist angesichts des Publikumszuspruchs und reihenweise gefüllter Stadien keine Übertreibung. Doch das ist einem schwierigen Spagat geschuldet.

Helene Fischer (Official)

Sie ist ihrem Publikum in der Pflicht, muss abliefern, was dieses will: Also am besten mehr vom Selben, ihr Metier ist nicht für Innovation oder Experimente bekannt. Andererseits führt Fischers Ehrgeiz sie sehr wohl in neue Gefilde, mit denen sich jene noch schwerer tun werden, die angesichts des gar neumodernen Schlagerpop Fischers schon länger skeptisch sind. Doch noch scheint das zu gelingen.

Erprobte Schablonen

Das mit viel Aufwand, Youtube-Präsentation samt Fan-Einbindung veröffentlichte Album streckt seine Tentakel in alle Richtungen aus: Schmachtballaden (Glückwärts, Luftballon …), Bombast (Die Erste deiner Art), Clubmusik (Liebe ist ein Tanz, Null auf 100, …) – meist führt ein Klavier in die Songs, gebaut sind sie nach erprobten Schablonen.

Man sieht Fischer beim Hören des Albums förmlich über die Bühne toben, fliegend die Garderobe wechseln, während ein Tross von tanzenden Gute-Laune-Lakaien mit perfekten Bodys ihr jeden Schweißtropfen mit Löschpapier von der perfekten Oberfläche saugt. Perfekt, keimfrei. Doch da kommt selbst ohne Lockdown bald Langeweile auf. "Wie oft wollte ich Glut, doch war da nichts mehr als Asche", singt sie in Hand in Hand. So kann's gehen: Wo eben noch ein Rausch war, macht sich schon der Kater breit. (Karl Fluch, 15.10.2021)