Wien – Ein deutliches Gehaltsplus, längerer Urlaub und eine bessere Abgeltung von Mehr- und Nachtarbeit: Das sind die zentralen Forderungen der Gewerkschaft für die bevorstehende Lohnrunde im Handel. Kommenden Donnerstag beginnt in Österreich das Feilschen der Sozialpartner um die Gehälter von 549.000 Angestellten und Arbeitern. Kein Kollektivvertrag umfasst mehr Beschäftigte. Jeder siebente Arbeitsplatz hierzulande wird im Handel geschaffen.

Zahltag im Handel: Die Sozialpartner verhandeln Löhne und Gehälter von mehr als 500.000 Beschäftigten.
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Was das Gros der Mitarbeiter im Handel seit der Corona-Krise vereine, sei eine enorme psychische Belastung, sagt Martin Müllauer, Vorsitzender der Branche in der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA). Die einen bangten in der Kurzarbeit um ihren Job und litten unter Existenzängsten. Die anderen seien seit eineinhalb Jahren im Dauereinsatz. "Sie sind ausgebrannt, körperlich am Sand."

Dünne Personaldecken

Der Arbeitsdruck sei auch durch den wachsenden Fachkräftemangel enorm gestiegen, sagt Anita Palkovich, Chefverhandlerin auf Arbeitnehmerseite. Sie erzählt von immer höherer Flexibilität, die Mitarbeitern vielerorts abverlangt werde, weil dünne Personaldecken Krankenstände, Urlaube oder Kündigungen nicht mehr erlaubten.

Und sie berichtet von der "teils unwürdigen Praxis", Arbeit zusehends in die Nachtstunden zu verlegen. Vor allem der Lebensmittelhandel hole seine Leute immer früher in die Filialen, beobachtet Palkovich. Da würden um zwei oder drei Uhr morgens Regale für Aktionstage bestückt und im Akkord Wurstplatten belegt, um Einkäufe ab sechs Uhr zu ermöglichen.

Doppeltes Entgelt gibt es nur für Dienste zwischen 20 und 21 Uhr wie für etwaige Nacharbeiten. Zuschläge für die Stunden danach zahlt der Handel im Gegensatz zu vielen anderen Branchen nicht. "Hier braucht es eine Notbremse." Wer außerhalb der Öffnungszeiten arbeite oder für Kollegen einspringe, den müssten Unternehmen für Nachtschichten bzw. zusätzliche Arbeit besser abgelten.

50 Prozent Nachtzuschlag

Konkret fordern Palkovich und Müllauer einen Nachtzuschlag in Höhe von 50 Prozent für die Zeit zwischen 21 und sechs Uhr. Zuschläge müsse es ab der ersten Stunde Mehrarbeit geben. Wer länger als drei Monate regelmäßig mehr als vereinbart arbeitet, solle ein Recht auf Stundenaufstockung erhalten. Zudem pocht die Gewerkschaft darauf, dass der Zuschlag für Mehrarbeit bereits im Folgemonat finanziell oder über Zeit abgegolten werde. Bisher ist dieses Geld erst nach drei Monaten fällig.

Jeder dritte Handelsangestellte ist im Lebensmittelhandel tätig. 78 Prozent der Beschäftigten sind Frauen, die überwiegend in Teilzeit arbeiten. In Summe betrifft der neue Kollektivvertrag jede fünfte berufstätige Frau, rechnet Palkovich vor. "Die Konjunkturaussichten haben sich verbessert, die wirtschaftliche Erholung ist spürbar. Bei den Fraueneinkommen liegt Österreich aber nach wie vor deutlich zurück."

"Stärkung der Kaufkraft"

Auf einen Prozentsatz, um den die Löhne und Gehälter der Branche 2022 steigen sollen, legt sich die Gewerkschaft, die von einer Inflationsrate in der Höhe von 2,1 Prozent ausgeht, vorab traditionell nicht fest. Palkovich stellt jedoch einmal mehr klar: "Lohnzurückhaltung ist nicht angebracht. Wir brauchen eine Stärkung der Kaufkraft."

Dass teurere Mehr- und Nachtarbeit Händler finanziell überfordert, bezweifelt die Gewerkschafterin. Denn diese finde nur dann statt, wenn es an Arbeit, Aufträgen und Kunden nicht fehle.

Müllauer stellt nicht in Abrede, dass Corona den Handel nach wie vor fest im Griff hat. Vor allem der Textil- und Schuhhandel steckten tief in der Krise. Zwei Drittel der Handelsbeschäftigten arbeiteten jedoch in Branchen ohne wirtschaftliche Probleme, ist er überzeugt und verweist auf eine Branchenanalyse der Arbeiterkammer.

Der Report attestiert Kapitalgesellschaften im Handel 2020 einen stabilen Jahresüberschuss trotz Pandemie und führt dies auf staatliche Corona-Hilfen sowie die Unterstützung für Kurzarbeit zurück. Die Gewinnausschüttung sei im Vergleich zu 2019 nur um vier Prozent gesunken.

20.000 Mitarbeiter fehlen

Österreichs Handel fehlen derzeit rund 20.000 Mitarbeiter. Palkovich führt den Rekord an offenen Stellen auf niedrige Gehälter, schlechte Arbeitsbedingungen und fehlende Vollzeitstellen zurück. "Der Handel muss sich fragen, warum sich keiner mehr bewirbt." Sie kenne Betriebe, die 80 Stellen ausschrieben, ohne dass sich ein Einziger darum bemühe. Und das betreffe nicht nur Lebensmittelhändler. Müllauer: "Die Geschichte, dass Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, haben nicht wir uns überlegt."

Das Mindesteinstiegsgehalt für eine Vollzeitstelle im Handel beträgt derzeit 1.740 Euro brutto. Die Entschädigung für das erste Lehrjahr beläuft sich auf 711 Euro. Die Gewerkschaft erwartet sich von den Arbeitgebern fürs kommende Jahr eine Digitalisierungsbonus für Lehrlinge in Höhe von 250 Euro. Realität werden müsse auch die leichtere Erreichbarkeit der sechsten Urlaubswoche.

Corona-Schock in den Knochen

Rainer Trefelik, Chefverhandler der Arbeitgeberseite, hält die Rahmenbedingungen für die Kollektivvertragsverhandlungen heuer für noch schwieriger als im Vorjahr. "Der Corona-Schock sitzt allen in den Knochen. Von Normalität sind wir weit entfernt", resümiert er im Gespräch mit dem STANDARD. Die Kluft zwischen Händlern, die gut durch die Krise kamen, und jenen, denen das Wasser bis zum Hals steht, hat sich aus seiner Sicht vertieft. "Auch zehn mal null bleibt null."

Trefelik zieht das Problem unterbrochener Lieferketten heran: Viele Bereiche litten in der Folge unter starken Kostensteigerungen. Auch dürfe der zeitweise Aufschwung einzelner Branchen nicht überschätzt werden: "Wie oft braucht man eine neue Küche oder einen neuen Griller?" Die Perspektiven blieben volatil. Keiner könne mit Gewissheit sagen, ob es heuer eine Ballsaison oder Christkindlmärkte gebe.

"Illusion"

Für den Handelsverband sind die Forderungen der Arbeitgeber untragbar. Eine sechste Urlaubswoche sei in Zeiten, in der jeder Mitarbeiter im Geschäft gebraucht werde und die Branche tausende Arbeitskräfte suche, Illusion, sagt sein Geschäftsführer Rainer Will. Den Rechtsanspruch auf Stundenerhöhung wertet er als unverhältnismäßigen Eingriff in die Geschäftstätigkeit. Und statt über neue Zuschläge nachzudenken, gehöre das "komplizierte und antiquierte Zuschlagswesen" vereinfacht. Jene an Samstagen nach 13 Uhr etwa seien längst überholt.

Alles in allem sieht Will keinen Spielraum für "überbordende Gehaltserhöhungen". "Das muss auch jemand zahlen, der es im Vorfeld erwirtschaftet." Im Vordergrund müsse vielmehr der Erhalt von Arbeitsplätzen stehen.

Komplizierte Personalplanung

Auch Fritz Poppmeier, Vorstandsvorsitzender des Handelskonzern Spar, hält eine zusätzliche Urlaubswoche für nicht finanzierbar. Er wolle den Verhandlungen der Sozialpartner nicht vorgreifen und sei sich sicher, dass sich für die Mitarbeiter eine faire Lösung finden werde, sagt er im Gespräch mit dem STANDARD. Die Personaleinsatzplanung dürfe dabei aber nicht verkompliziert werden.

Arbeit in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden vor Geschäftsöffnung sei mitunter notwendig. Ihr Ausmaß habe in seinem Konzern in den vergangenen Jahren aber nicht zugenommen. Warum Dienste zwischen 21 Uhr und sechs Uhr bisher nicht zusätzlich abgegolten werden? Poppmeier verweist auf Zuschläge, die der Handel im Gegenzug bereits ab 18 Uhr 30 bezahle, obwohl es sich dabei um "normale Arbeitszeiten" handle. "Wir müssen die Summe aller Bausteine betrachten."

Was den Rechtsanspruch auf Stundenerhöhung betrifft, zieht er das Beispiel eines Supermarktes mit schwachen Umsätzen heran: Mit wenig Mitarbeitern sei das Personalmanagement im Falle von Krankenständen nicht einfach. "Aber daraus neue Rechte für die Allgemeinheit abzuleiten, ist herausfordernd. Ein Geschäftsmodell muss umsetzbar bleiben."

"Keine Freiwilligkeit mehr"

In die Lohnrunde spielt auch das neue Lohnsystem hinein, das ab Jänner 2022 höhere Einstiegsgehälter verspricht. Rund ein Drittel der Betriebe zögerte die Umstellung bis zuletzt hinaus. Trefelik führt dies auf hohen administrativen Aufwand zurück: "Die Mehrkosten werden jetzt schlagend." Die Gewerkschaft hat dafür wenig Verständnis: Vier Jahre seien eine ausreichend lange Zeit gewesen, um das neue Gehaltsschema umzusetzen.

Im Vorjahr stiegen die Löhne und Gehälter im Handel um 1,5 Prozent. Viele Unternehmen zahlten freiwillige Corona-Prämien. Trefelik sieht diese als bewährtes Modell, um die Brücke zwischen finanziell auseinanderdriftenden Betrieben zu schlagen. Palkovich und Müllauer halten davon nichts mehr: "Wir reden heuer nicht über Freiwilligkeit." (Verena Kainrath, 14.10.2021)

Der Artikel wurde um die Stellungnahme des Handelsverbands und des Spar-Chefs Fritz Poppmeier ergänzt.