Wie weibliches Schreiben unterdrückt wird: Nicole Seifert.

Foto: Sabrina Adeline Nagel

Als Nicole Seifert beschloss, etwas Grundlegendes an ihrem Lebensstil zu ändern, wurde sie immer wieder "freundlich-besorgt" gefragt, ob ihr denn nichts fehle. Ob sie es denn wirklich gar nicht mehr konsumiere.

Klingt, als hätte Seifert beschlossen, ab sofort vegan zu leben, als fehlten ihr wichtige Mineralien und Spurenelemente. Dabei hatte die promovierte Literaturwissenschafterin und gelernte Verlagsbuchhändlerin, die nach Jahren in Lektoraten verschiedener Verlage nun als freie Autorin und Übersetzerin arbeitet, einfach nur beschlossen, ein Jahr lang nur noch Bücher von Frauen zu lesen. Sprich: keine Bücher von Männern mehr.

Aus einem Jahr wurden drei, statt Mangel an Nährstoffen und lebenswichtigen männlichen Einsichten erlebte Nicole Seifert "Lesejahre, die so abwechslungsreich und reichhaltig waren wie lange keine mehr". In FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt erzählt sie nicht nur von diesen bereichernden Erfahrungen, sie zeigt vor allem, welche Strukturen nach wie vor dafür sorgen, dass Literatur von Frauen als Sonderfall, als Ausnahme von der Regel gilt.

Fast 40 Jahre ist her, dass die US-Amerikanerin Joanna Russ in dem bis heute nicht ins Deutsche übersetzten How to Suppress Women’s Writing zeigte, wie Literatur von Frauen zu allen Zeiten abgewertet, kleingemacht, marginalisiert wurde. Seifert bezieht sich immer wieder auf Russ, wie auch auf andere Autorinnen (und Autoren!) mit ähnlichen Ansätzen, und zeigt vor allem: Es hat sich beschämend oder – je nach Perspektive – erschreckend wenig geändert in diesen vier Jahrzehnten.

Verlacht und verachtet

Was Autorinnen wie Elfriede Jelinek (siehe dazu auch Seite A 6) immer wieder feststellen, dass das Werk der Frau nichts wert ist nämlich, verlacht, verachtet, kleingemacht wird, zieht sich durch die Geschichte, von den Brontë-Schwestern bis zu heutigen Erfolgsautorinnen wie Judith Hermann.

Seifert wirft einen Blick auf die Literaturkritik, sie liefert Fakten von internationalen Forscherinnen und Forschern (etwa der Innsbrucker Germanistin Veronika Schuchter), die ein nach wie vor bestehendes, eklatantes Geschlechter-Ungleichgewicht aufzeigen, aber sie zitiert auch einen Haufen Großkritiker von Reich-Ranicki bis Scheck, deren Aussagen dermaßen strotzen vor Ignoranz, Unsachlichkeit und Feindseligkeit, dass von sachlicher Kritik kaum noch die Rede sein kann.

Immer noch wird mit seltsamen Biologismen hantiert, als glaubte man im 21. Jahrhundert allen Ernstes, dass geschlechtliche Unterschiede dazu führen würden, dass ein Mensch weniger gut denken (oder eben schreiben) kann. Seifert zeigt, dass, wo es vorgeblich um Qualität geht, am Ende immer noch das Geschlecht zählt, und die Tatsache, dass dem, was Frauen denken, sagen oder tun, immer noch weniger Wert beigemessen wird. Zumindest im Vergleich zu dem, was Männer so leisten – und seien es nur ihre Prostataprobleme, von denen ja auch der eine oder andere Männerroman handelt.

Die Welt, in der wir leben

"Traditionell", zitiert Seifert einen Autor, "wurde die Perspektive weißer heterosexueller Ma¨nner in der Literatur als allgemein menschlich dargestellt, so der Schriftsteller Alexander Graeff, dabei stelle das eben nur eine Perspektive dar, und zwar eine besonders privilegierte (was selten die besten Geschichten ergibt)."

Nicole Seifert, "FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt". € 18,50 / 224 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021
Foto: Kiepenheuer & Witsch

Es geht doch hier nur um Literatur, könnte man einwenden. Aber in der Literatur spiegelt sich eben die Welt, in der wir leben – und sie dient, gerade Kindern und Jugendlichen, die das Lesen entdecken, als Kompass dafür, wie diese Welt vermeintlich ist. Oder zu sein hat.

Daneben bleibt es, auch in der Literatur, nicht bei Abwertung und Marginalisierung von Frauen (und von Queers oder BIPoC – das betont Seifert explizit) – es kommt auch dort immer wieder zu (sexueller) Gewalt und (Macht-)Missbrauch. "Es ist eine Pyramide, deren breite Basis aus mangelnder Empathie für Frauen besteht, aus Geringschätzung und Ausgrenzung, und an deren Spitze sexualisierte Gewalt und Femizid stehen."

Ein ungemein kluges, fundiertes, ein wichtiges Buch – uneingeschränkt zu empfehlen. (Andrea Heinz, ALBUM, 17.10.2021)