Auf dem Schulweg damals. Der Karl stand an der Ecke Wilhelmsring zum Franzensring. Wir kamen den Wilhelmsring von der Wiener Straße herauf und konnten ihn schon sehen. Er stand nur da, wenn wir Mädchen alleine waren. Wenn einer der Brüder mit dabei war. Der Karl war dann nicht zu sehen. "Ich werde euch abhauen", sagte der Karl zu uns beim Vorbeigehen. Ruhig war das gesagt worden. Zukunftsgewiss.

Was sollten wir tun? Sollten wir in der Wiener Straße gehen? Das war uns verboten worden. Wir sollten den ruhigen und damals autofreien Franzensring zur Volksschule auf dem Kirchenplatz gehen. Und dann. Es wäre Schwäche gewesen. Wir funktionierten damals nach Begriffen der Unverrückbarkeit wie Ehre. Es wäre uns Hasenfüßigkeit gewesen, den Platz zu räumen. Und dann wiederum. Selbst die so nette Mutter meiner Schulfreundin Lisi hätte uns nicht geglaubt. Der Karl flüsterte seine Drohung ja nur uns alleine zu. Es hätte nur unseren Bericht gegeben gegen den. "Der Karl ist nicht so einer", hätte es geheißen. Oder hat es geheißen. Im Gegenteil. Der Vater hätte den Kopf geschüttelt und gesagt, wie man diesen Buben so verdächtigen könne. Wir waren von unserer Umgebung hilflos gemacht worden.

Die damalige Hilflosigkeit. Beim Kurz-Rücktritt gestern Abend fiel sie mir wieder ein. Denn. Dieser Kurz-Rücktritt wird nur kurz gelten. Die Wiederauferstehung wird zum zweiten Mal geplant. Und wir werden tapfer in die nächste Wahl gehen müssen, obwohl wir alles wissen. Wie ja alles bekannt war und von allen anerkannt. "Ach. So tun wir doch alle", sagten die Kurz-Verteidiger im Gespräch. Und wie damals. Die Bullys sind meisterlich im Ausbeuten der anderen. Wie damals werden wir gezwungen, den Weg an der Bedrohung vorbei zu nehmen. Der andere Weg. Der wäre gewesen, ganz zurückzutreten. Gar nicht mehr dazustehen. Die anderen machen lassen.

Neurechte Geschwisterrivalität

Die anderen vier Parteien hätten sich zusammenraufen müssen. Österreichischerweise wäre damit die Tradition des Kompromisses aktiviert worden. Alle Wählerinnen und Wähler wären vertreten gewesen. Auch die der FPÖ. Unausgegrenzte Politik würde in Fragen des Klimawandels durchaus Sinn ergeben. Aber. Weil wir durch die allem innewohnende und alles dominierende Korruption von Kurz und den Seinen von einem geordneten politischen Vertragszustand in familiäre Abhängigkeitsverhältnisse gezwungen wurden. Wir müssen auf das Problem zugehen, den Rechtsstaat gegen die – nun kurz ehemalige – Verwaltung verteidigen zu müssen.

"Die Justiz (ordentliche Gerichtsbarkeit in Zivil-und Strafsachen) ist von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt", steht auf österreich.gv.at. Die Missachtung der Justiz. Bei jedem Auftritt von Kurz gab es einen Unterton. Eine zweite Ebene der Mitteilung. Die Prosodie und die Bewegungen. Sie erzählten davon, dass hier ein Opfer spricht. Die Fakten werden als Fragen ausgesprochen. Die Satzmelodie hebt sich gegen Ende. Die Fakten werden so über das Sprechen infrage gestellt. "Mein Land ist mir wichtiger als meine Person." Als Frage gesagt, wird dieser Satz vom Bekenntnis zum Appell für seine Person. Wie alle Informationen durch den Sprechton infrage gestellt wurden. Das ist ideologisches Sprechen. Noch in diesem Augenblick wird die Realität der Fakten infrage gestellt und die Person in den Mittelpunkt gestellt. Dass es sich hier um den bedrohten Helden handelt, das passt in die Victimologie neurechter Politiken. Kurz steht in Konkurrenz zur Neurechten und nicht in Gegnerschaft. Deshalb will er auch nicht die Vier-Parteien-Lösung. Da könnte Kickl unter Umständen etwas richtig machen, und das lässt diese neurechte Geschwisterrivalität nicht zu.

"Seit dem Tag, an dem ich begonnen habe, mich politisch zu engagieren, habe ich immer versucht, meinen Beitrag für unser Österreich zu leisten", leitete Kurz seine Rücktrittsverkündigung ein.
Foto: Heribert Corn

Wie wir nun insgesamt wieder in der Fernsehserie gelandet sind. Wie bei den Sopranos werden wir mit der Vorgeschichte beschäftigt werden. Und Schaden nehmen dadurch. Demokratischen Schaden. Denn. Statt sich der Angelegenheit zu stellen und damit die Justiz anzuerkennen. Es werden die Abläufe betreffende Spitzfindigkeiten unsere Unterhaltung herstellen sollen. Wir werden in Feinheiten der Definitionen Expertenschaft entwickeln müssen. Immer wird sich alles um die Person Kurz drehen. Ein Narzisst kann ja alle Aufmerksamkeit brauchen. Ob gegen ihn oder für ihn. Alles ist narzisstische Versorgung. Die Medien werden dem entsprechen. Nichts ist besseres Clickbait als eine so umstrittene, öffentlichkeitsaffine Person.

Die Vorgeschichte. Wir werden nachvollziehen müssen, wie einer so geworden, es so gemacht hat. In der Vorgeschichte zu den Sopranos spielt der Sohn Michael Gandolfini den jungen Tony Soprano, der von seinem Vater, James Gandolfini gespielt worden war. So kompliziert wird es in unserer österreichischen Serie der Geschwisterrivalität in der BWL-Generationen-Urgruppe der Söhne nicht sein müssen. Kurz wird glaubwürdig sich selbst als jüngere Person darstellen können.

"Seit dem Tag, an dem ich begonnen habe, mich politisch zu engagieren, habe ich immer versucht, meinen Beitrag für unser Österreich zu leisten", leitete Kurz seine Rücktrittsverkündigung ein. Es ist der einzige Satz, der mit abfallender Satzmelodie beendet wird. Kurz kann sich diesen Satz selber glauben. Aber die inhaltliche Abschwächung ist hier im Text enthalten. Es war ein Versuch. Kurz übernimmt nicht die Verantwortung für all die Änderungen, die er veranlasst hat. Die Veränderungen im Leben der Bürgerinnen und Bürger. Die Veränderungen in der Kultur des Politischen. Die Realität des Regierens in Lockdowns und Staatsschließungen. Es war immer nur ein Versuch und sein Beitrag. Wohl ist die wahre Autokratie noch nicht erreicht worden. Dagegen stellt sich jetzt die Frage der Rechtsstaatlichkeit. Aber regiert ist worden. Verändert ist worden. Deregulierung in den Elitensphären und Abbau der Institutionen zur freien Entnahme für die Eliten. Verengung, Kontrolle und Verarmung im Leben der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Das den Versuch auf einen Beitrag für ein gemeinsames Österreich zu nennen. Da kann Kurz zufrieden den Ton zum Satzende senken. Da ist die Lüge im Satz selbst zu finden, aber wie bei jedem Prediger. Wenn die Lüge ausgesprochen wird, kann der Prediger es sich selber glauben. Das kann einer aus der Geschichte des Katholischen schon lernen.

Es braucht radikalere Lösungen

Aber vielleicht. Können wir uns nicht einfach abwenden. In jedem Gespräch. Auch mit Kurz-Anhängern und -Anhängerinnen. Allen Personen ist so klar, welche Politik es gerade braucht. Dass es radikalere Lösungen in Bezug auf die Klimakrise geben muss. Und. Dass wir in der Anordnung dieser Lösungen Demokratie mitdenken müssen. Dass die Klimakrise unsere Leben in ganz anderer Weise erschüttern wird und dass wir gemeinsame Wege finden müssen, wollen wir in irgendeiner Weise zivilisiert bleiben. Und vielleicht.

Vielleicht müssen wir das Wort "Kompromiss" aus dem österreichischen Wortschatz streichen und "Problemlösung" dafür einsetzen. Die selbstverständliche Abwertung eines Verhandlungsergebnisses in der Bezeichnung als Kompromiss. Das hat die gesamte österreichische Geschichte eingeschrieben. Von Kaisern und Kaiserinnen ausgehend bis zu den Proporzvorstellungen des Kalten Kriegs. Kompromiss bezieht sich immer auf die Angst vor der Straße. Kompromisse waren immer die Abwehr von Aufruhr und Revolution. Kompromisse waren gegenseitige Erpressung im Dastehen vor der Öffentlichkeit.

Und vielleicht. Für die notwendigen Problemlösungen braucht es andere Persönlichkeiten. Narzisstisches Drängen an die Öffentlichkeit kann uns da nicht weiterbringen. Es wird ein kluger Weg zwischen Fachmeinungen, Notwendigkeiten und Zumutungen navigiert werden müssen. Gleichzeitig soll der Boden der demokratischen Verfassung nicht mehr verlassen werden. Persönlichkeitskultiges ist da kontraproduktiv. Besonnenheit wäre schön. Und die Vorgabe, mit uns und nicht gegen uns regieren zu wollen. Denn. Besonders nach oder noch in der Pandemie. Die Betroffenen. Also die, die als Regierte leben müssen. Die wissen so viel mehr als die, die regieren.

Wir sind alle in diesem einen Boot

Vielleicht. Vielleicht können wir jetzt endlich lernen, dass unsere Leben etwas gelten. Dass wir etwas übers Leben wissen. Dass wir aus dieser Erfahrung Schlüsse ziehen können. Wir müssen uns immer erinnern, dass über Jahrhunderte dieses Wissen der einzelnen Person über die Beichte zunichtegemacht wurde. Es gibt in der Kultur des Katholischen nur das Wissen der Kirche, zu dem sich die einzelne Person in Beziehung setzen musste. Deshalb gibt es auch keine Philosophie im Österreichischen, weil alle Lebenswissenschaft im Katholischen verhindert worden war. Wir lernen erst, was es bedeutet, ein eigenes Leben zu führen.

Kurz steht ganz in der geisteswissenschaftlichen Tradition der antiphilosophisch-katholischen Denkkultur, die nur dekretieren kann und, um das zu können, nichts über das Leben wissen will. Wir haben die praktischen Auswirkungen dieses Denkens in der Praxis der Ausgangssperren, aber auch deren Befolgung erlebt. Es ist Zeit, sich der Zukunft zuzuwenden, die mit solcher Einstellung nicht gedeihlich zu bewältigen sein wird. Wenn wir halbwegs freundlich über die nächsten Jahrzehnte kommen wollen, dann sollten wir uns Personen aus unseren Reihen aussuchen, die nicht in politischen Parteien sozialisiert wurden. Wir sollten nach ausgeglichenen Personen suchen, die nicht die narzisstische Nahrung des öffentlichen Auftritts brauchen. Diese Suche hat viel Ähnlichkeit mit der Partner- und Partnerinnensuche. Aber wie einmal in der Ehe. Es geht um unsere Leben. Es geht darum, wie es weitergehen wird. Und wir sind alle zusammen in diesem einen Boot. Wir müssen mitsteuern, wollen wir uns nicht hilflos ausliefern.

Und hilflos. Es ist erstaunlich, wie befreiend die Nachricht vom Rücktritt war. Nun feierten wir das ja auch schon einmal. Und die Wiederwiedergängerei wird versucht werden. Deshalb sollten wir alle Twitterei verweigern, aber dem Prozess genau folgen und die Ergebnisse dann auch akzeptieren. Dann wird es uns doch gelingen können, diese Ecke ohne Zwischenfall zu passieren. Es hat auch etwas vom aufmerksamkeitsheischenden Kind, wenn wir mit dieser Person so ausführlich beschäftigt werden. Die allgemeinen und persönlichen Krisen der Pandemiezeit lassen das kleinlich erscheinen. Langweilig ist das. Staatstragend fürsorglich sicher nicht. (Marlene Streeruwitz, ALBUM, 16.10.2021)