1938 werden jüdische Wienerinnen und Wiener gezwungen, Österreich-Parolen von der Straße zu wischen: Derartige, oft spontan und unter Teilnahme zahlreicher Schaulustiger veranstalteter, Demütigungen wurden auch als "Reibpartien" bezeichnet.

Foto: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes

Österreich war schon vor dem "Anschluss" an Hitlerdeutschland tief nationalsozialistisch unterwandert und antisemitisch "vorbereitet". Das verdeutlichen nicht nur immer mehr Erkenntnisse der jüngeren Antisemitismus-Forschung. Eine neue Freiluftausstellung auf dem Wiener Heldenplatz, zwischen Weltmuseum und Äußerem Burgtor platziert, zeigt nun auch erstmals, welch starken Modellcharakter die Wiener Judenverfolgung für das gesamtdeutsche Reich hatte.

Die Ausstellung Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoah entstand in Kooperation des Hauses der Geschichte, der Uni Wien und der Akademie der Wissenschaften. Die Historikerinnen Heidemarie Uhl, Michaela Raggam-Blesch und Isolde Vogel zeichnen dafür verantwortlich. Auf acht Stationen mit Schautafeln verteilt wird die Geschichte vom massenhaft bejubelten "Anschluss" 1938 über die schrittweise verschärfte Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung bis hin zu deren Deportation und Vernichtung geschildert.

Einzelschicksale stehen neben Aktenauszügen aus der NS-Bürokratie, beleuchtet werden auch Überlebensstrategien, jüdischer Alltag unter dem Eindruck der Verfolgung und vor allem: das perfide System der erzwungenen Auswanderung, das ab 1941, also vor genau 80 Jahren, in die ersten Deportationen in Ghettos, Vernichtungslager und Mordstätten im Osten mündete.

Experimentierfeld Österreich

Adolf Eichmann, der als Hauptorganisator des Holocaust 1961 in Israel zum Tode verurteilt wurde, fand in Wien 1938 ein perfektes Karrieresprungbrett vor, erklärt die Kuratorin Heidemarie Uhl. Hier entwickelte er die neue NS-Behörde "Zentralstelle für jüdische Auswanderung", die das Ziel hatte, die jüdische Bevölkerung systematisch zu vertreiben. Nach Wiener Vorbild wurden 1939 in Berlin und Prag sowie 1941 in Amsterdam weitere solcher Zentralstellen eingerichtet.

Aber nicht nur das, auch Pogrome erfolgten im vorauseilenden Gehorsam in Österreich bereits unmittelbar nach dem "Anschluss", noch ehe die antijüdischen Maßnahmen des NS-Regimes formal griffen. "Die Nazis in Deutschland waren überrascht, was in Wien alles möglich ist", sagt Uhl. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels fand in Österreich ein Experimentierfeld vor und ließ sich davon für die folgenden, von oberster Stelle inszenierten Juni- und Novemberpogrome im ganzen NS-Staat inspirieren.

Die Ausstellung "Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoah" auf dem Wiener Heldenplatz.
Foto: Lorenz Paulus, Hdgö

Der Wiener Gauleiter Baldur von Schirach verfolgte den Plan, Wien als erste Großstadt des Reichs "judenfrei" zu machen. Aus diesem Grund erfolgten von Wien aus auf Hitlers ausdrücklichen Befehl im Februar 1941 die ersten systematischen Deportationen in den Osten – der Beginn des organisierten Massenmords. 130.000 österreichische Jüdinnen und Juden konnten bzw. mussten zwischen 1938 und 1941 fliehen, 17.000 davon wurden in Zufluchtsländern wie Frankreich oder den Niederlanden vom NS-Regime wieder eingeholt und ermordet. Die größten Aufnahmeländer der Geflüchteten waren Großbritannien (31.000), die USA (29.000), Palästina (15.000) und China (6.000).

Das Schicksal der Freud-Schwestern

Insgesamt starben 65.000 österreichische Juden, nur rund 8.000 konnten in Wien überleben. Einer von ihnen: der in diesem Jänner verstorbene Künstler Arik Brauer. Ihn schützte eine nichtjüdische Mutter vor der Deportation, Zwangsarbeit und Repression bis hin zum Tragen des Judensterns musste Brauer dennoch erdulden.

Ein weiteres eindringliches Schicksal, das die Ausstellung zeigt, ist jenes der Schwestern von Sigmund Freud. Während dem Begründer der Psychoanalyse 1938 die Auswanderung nach London gelang, blieben seine betagten Schwestern Marie, Adolfine, Pauline und Rosa in Wien zurück.

Schwestern von Sigmund Freud auf der Traun-Promenade in Bad Ischl, 4. Juli 1932, v. l. n. r.: Adolfine Freud (1862–1942), Anna Bernays (1859–1955), Marie Freud (1861–1942) und Pauline Winternitz (1864–1942). Anna Bernays, die Älteste der Freud- Schwestern, überlebte in New York.
Foto: Library of Congress, Washington, D.C.

Alle vier Schwestern starben 1942 in den Lagern Theresienstadt und Treblinka. Einzig Anna Bernays, die Älteste der Freud- Schwestern, überlebte in New York. "Gerade ältere Menschen hatten oft Probleme, Ausreisevisa für die Zielländer zu bekommen", erklärt Uhl. Die Flucht gelang eher jungen Menschen – bis zum Ausreiseverbot im Jahr 1941, als das NS-Regime parallel zum Überfall auf die Sowjetunion auf Vernichtung umschwenkte.

Die Schau ist bis 10. Dezember auf dem Wiener Heldenplatz zu sehen. Danach wird sie als Wanderausstellung durch Österreichische Kulturforen, speziell in einstigen Zufluchtsländern, touren. (Stefan Weiss, 15.10.2021)