Tanzende Hände im Dienste des originellen, besessenen Musizierens: Teodor Currentzis.

Foto: Alexandra Muravyeva

An der Fassade des Kultur- und Kongresszentrums flattern im Wind zwei Banner mit dem Bild Teodor Currentzis’. Das schwarz-weiße Konterfei des griechisch-russischen Dirigenten kündet nicht nur von der ersten internationalen Residenz seines Orchesters – es passt auch zum Wetter. Über dem Vierwaldstättersee in Luzern hängen dunkle Wolken ...

Kurz nach 20 Uhr betritt dann ein Akkordeonist das Podium eines abgedunkelten Saals, dem der musicAeterna-Chor samt Dirigent folgen. Aufgeführt wird Tristia, eine Choroper von Philippe Hersant, die Currentzis in Auftrag gab. Hersant hat 33 Gedichte französischer und russischer Gefangener vertont, seine Musik entfaltet mit ihrer Symbiose aus orthodoxen Gesängen, archaischen Melodien und sakralen Elementen eine berauschende Sogwirkung.

Einen Kreis bilden

Begleitet wird der Chor von 15 einander abwechselnden Soloinstrumenten. Mal erklingt eine filigrane Streichermelodie, mal ein derbes Trinklied, dann ein kaputter Walzer. Auf der in Dunkelheit gehüllten Bühne sind Chor und Dirigent – alle schwarz gekleidet – in ständiger Bewegung. Sie bilden einen Kreis, der sich öffnet und schließt. Sie marschieren, laufen, zischen, schreien, flüstern zu den rhythmischen Impulsen der Partitur. Currentzis fungiert dabei – mit seinen tanzenden Armen und den energisch wirkenden Gesten – als Zeremonienmeister.

In der anschließenden Podiumsdiskussion erklärt er, "dass wir Dunkelheit und Zwielicht brauchen, um zu uns selbst zu finden". Er spricht vom heiligen Akt der Musik, dem Gefängnis in uns allen, von Mystik und Spiritualität. Danach scharen sich Fans um ihn, zücken Handys und schießen Selfies, was Currentzis milde lächeln lässt, bevor er nach wenigen Minuten entschwindet. Der Trubel behagt ihm nicht ...

Lass sie kommen!

Am zweiten Tag der Residenz ist der Saal bereits zu Mittag gut gefüllt. Gekommen sind Studierende der Luzerner Musikhochschule, um zu erleben, wie Currentzis Mahlers Fünfte mit zwei Nachwuchsdirigenten erarbeitet.

Currentzis, in schwarzen Röhrenjeans, T-Shirt und Lederschuhen mit roten Schnürsenkeln, animiert die jungen Dirigenten, selbstbewusster mit Partitur und Orchester umzugehen. "Lass die Musiker auf dich zukommen! Mach es ihnen nicht zu leicht, und vergiss das Formale! Zeig ihnen stattdessen, was nicht in der Partitur geschrieben steht!" Um zu demonstrieren, wie das geht, stellt sich Currentzis mit dem Rücken zum Orchester, hält beide Arme ausgestreckt, knetet und modelliert den Klang mit den Fingerspitzen. "Stell dir vor, du willst jemanden umarmen und keiner ist da – so muss es klingen!"

Traum vom eigenen Klangkörper

Wie aber gelingt ihm dieses präzise, symbiotische Zusammenspiel mit seinem Orchester? Nun, 2004 erfüllte sich Currentzis den Traum vom eigenen Klangkörper. In Nowosibirsk, wo er am Opernhaus Chefdirigent war, castete er Talente an russischen Konservatorien und gründete mit ihnen musicAeterna. 2011 zog man dann nach Perm.

Inzwischen ist das Orchester aber in Sankt Petersburg stationiert – nur das Diaghilew-Festival wird noch in Perm durchgeführt. 2018 wurde Currentzis schließlich auch Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters. "In Perm hatte die Außenwelt für mich aufgehört zu existieren", erinnert sich Flötistin Laura Pou, die mit 20 aus Barcelona nach Sibirien kam. "Jeder hatte sich Teodor und dem Orchester verschrieben. Wir haben gemeinsam gegessen, Fußball gespielt, diskutiert und bis spät in die Nacht Musik gemacht."

Tatsächlich ticken die Uhren in Russland anders als im Westen. Es gibt weder Orchestervorspiele noch Probezeit. Eingeladen wird man als Musiker auf Empfehlung des Chefdirigenten. "Man kommt leicht hinein, ist aber auch leicht wieder draußen", sagt Thomas Hammes, Solotrompeter beim SWR-Orchester und bei musicAeterna. "In Europa ist es umgekehrt: Hat man es einmal ins Orchester geschafft, ist es ein Job auf Lebenszeit."

Intuitive Wahl

Die Wahl seiner Musiker und Musikerinnen trifft Curretzis regelrecht intuitiv. "Wenn ihn ein Musiker fasziniert, lädt er ihn ein, mit uns zu spielen. Um mit Teodor zu arbeiten, braucht es jedoch absolute Hingabe, Flexibilität und Mut zum Risiko. Es gibt nichts dazwischen, keine Kompromisse", sagt Laura Pou. Currentzis animiert seine Musiker, bis an die mentalen und instrumentalen Grenzen zu gehen. "Man wird schließlich süchtig danach, mit ihm zu arbeiten", so Pou.

Am Abend war es in Luzern zu erleben: Bei Mahlers fünfter Symphonie folgt das phänomenal aufspielende Orchester jeder seiner Gesten, jedem Blick und offenbar auch jedem Gedanken – von der ersten bis zur letzten Reihe. Man muss den 49-Jährigen letztlich aber live erlebt haben, um von der Wucht seines – oft durchaus auch kontrovers diskutierten – Musizierens erfasst zu werden. (Miriam Damev aus Luzern, 16.10.2021)