Waren das noch Zeiten, als man den Werktätigen am Helm und am selbstbewussten Lächeln sofort erkannte.

Foto: Fatih Aydogdu

Das abenteuerlichste Erzählwerk dieser Tage kann es in Sachen Spannung mit Leichtigkeit mit Boccacios "Dekameron" aufnehmen. Den Band "Verkannte Leistungsträger:innen" bevölkern keine Sultane und Könige, schon gar nicht Abenteurer, die auf sexuelle Zerstreuung aus sind. Die Helden der von Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey herausgegebenen Sammlung von Fallbeispielen aus der Arbeitswelt, 22 an der Zahl, sind Nobodys. Es sind Frauen und Männer mit geringer Tagesfreizeit, Lastenträger, die schwächsten Glieder in den sogenannten "Wertschöpfungsketten". Unter ihnen finden sich Spargelpflücker, Fahrradkuriere, Kassiererinnen, Sorgearbeiterinnen, Chauffeure.

Ihnen allen hallt der Applaus in den Ohren nach, der ihnen von der Gesellschaft unter dem Eindruck der pandemischen Stillstellung reichlich gespendet wurde. Ihnen verdankte die Allgemeinheit den Eindruck, dass der Laden "irgendwie lief".

Von moderaten Prämienzahlungen abgesehen, blieb die Masse der prekär Beschäftigten jedoch sich selbst überlassen. Gemeint sind die Kulissenschieberinnen im Dunkel der Arbeitswelt: die Reproduktionsleister im Gesundheitswesen, die Pädagogen, Sozialarbeiterinnen, Prekarisierte aller Couleurs. Diese Nicht-mehr- oder Noch-nicht-Proletarier eint das Leiden an der Unsicherheit ihrer Beschäftigungsverhältnisse. Hinzu kommt, dass sie (beinah methodisch) ihre Gesundheit zerrütten – dass sie sich, um vor den Augen ihrer Antreiber bestehen zu können, unausgesetzt selbst "optimieren".

Mayer-Ahujas/Nachtweys "Berichte aus der Klassengesellschaft" (Untertitel) ersetzen in Sachen Zugänglichkeit ein paar Festmeter Sozialliteratur. Vier Typen zur Auswahl, um die Tücken der Arbeitswelt zu illustrieren.

Die Zimmerstundenkraft

Care-Arbeit, also Sorgearbeit, ist, wie so viele schlecht entlohnte Knochenarbeit, eine überwiegend weibliche Domäne. Wer rund um die Uhr Betreuungs- und Haushaltsarbeit leistet, von der oder dem wird nicht selten eine Sieben-Tag-Präsenz eingefordert. Pflegekräfte arbeiten häufig in einem gesetzlichen Graubereich. Sind die Vertragsbedingungen einmal festgesetzt, fehlt oft ein "Pflichtenheft". Sind hingegen die physisch aufreibenden Tätigkeiten erledigt, nehmen die emotionalen Anteile der Arbeit überhand.

"Live-in-Care"-Arbeiterinnen sind zumeist Osteuropäerinnen, die einem Pendelsystem mit Rotationsmigrantinnen unterliegen. Häufig kommen Care-Arbeiterinnen über profitorientierte Verleihagenturen in die Zielländer. In diesen leisten sie "bezahlbare Pflege" und steuern "unbezahlbare Herzlichkeit" bei.

Die Pizzabelegerin

Zu den Paradoxa der industriellen Herstellung von Lebensmitteln gehört ihre Lifestyle-Komponente. Wer sich Fertigprodukte oder Tiefkühlware einverleibt, möchte darum nicht auf "natürliche Zutaten" verzichten. Haben zum Beispiel Beschäftigte einer Backfabrik das Glück, nach Tarif entlohnt zu werden, so werden sie dennoch in das System der Förderbänder und Kühltürme reintegriert. Sie müssen die "Tomatensoße" auf der Pizza erst recht wieder mit dem Löffelchen verteilen, weil die Maschine vor dieser Aufgabe versagt.

Nicht immer also sorgen Automatisierung und Digitalisierung für die Freisetzung von Kapazitäten für höherwertige Arbeit. Die "Höhergruppierung in Bezug auf die Bezahlung" bleibt vielfach Wunschtraum.

Die Krankenhauswäscherin

Spitäler werden immer öfter nach betriebswirtschaftlichen Kriterien betrieben. Mit jedem weiteren Ökonomisierungsschub wird ein "patientenferner Bereich" (Wäscherei, Reinigung, Küche) ausgegliedert und der Obhut eines Tochterunternehmens anvertraut.

Die Kräfte an den Waschkesseln leisten fließbandartige Tätigkeiten. Sie sind leicht austauschbar oder müssen "hochverdichtete Arbeit" leisten – dann prasseln die Wäschesäcke förmlich auf sie ein. Abgesehen von der kärglichen Entlohnung (um Haustarife muss gekämpft werden) droht Arbeitsfron durch ausgeklügelte Kontrollsysteme. "Einbahn-Duzen" und fehlende Wertschätzung gehören noch zu den geringeren Problemen.

Der "Unterschichtete"

Kurierdienstleister entstammen der Branche der Dienstleistungsplattformen. Der urbane "Rider" prescht mit dem eigenen Fahrrad über hohe Randsteine und muss beten, dass ihm das iPhone nicht aufs Pflaster kracht. Die Steuerung der Kurierarbeit erfolgt über Algorithmen: Warntöne ermöglichen die kybernetische Kontrolle des Pedaltreters. Die schöne Welt der Plattformökonomie hat für jeden etwas parat: In ihr wird die Gewährung des Mindestlohns durch Abzüge oder durch die Auslagerung von Betriebskosten auf Beschäftigte umgangen.

Verschleißt etwas? Dafür gibt es "Guthaben" bei einem überteuerten Onlineshop für Fahrradzubehör. Selbst ist der Kunde! So hat der Kapitalismus sogar für "Unterschichtete" genug Konsumspaß auf Lager. (Ronald Pohl, 16.10.2021)