Es ist keine zwei Jahre her, da sprach man in Europa meist von der Krise der Sozialdemokratie, die von keiner Krise des Kapitalismus profitieren kann und zwischen linken und rechten Populisten aufgerieben wird. Doch nun sind es die konservativen Volksparteien, die bei Wahlen immer öfter scheitern – am auffälligsten in Deutschland, aber zuvor auch in Norwegen. Sie sind fast nur noch in Osteuropa stark.

Und mit Sebastian Kurz wird gerade jener Politiker demontiert, der vielen Konservativen als Hoffnungsträger und Vorbild galt. Die Niederlage der deutschen Union und der Rücktritt von Kanzler Kurz bedeuten einen Doppelschlag für eine Bewegung, die sich meist zum Regieren berufen fühlt, aber über diesen Machtanspruch hinaus immer seltener überzeugende Inhalten bietet.

Härte in der Migrationspolitik, ein Erfolgsrezept der letzten Jahre, wird von rechtspopulistischen Parteien glaubwürdiger vertreten und wirkt seit dem Abflauen der Flüchtlingsbewegung in die EU immer weniger. Das Versprechen, die Wirtschaft von den Fesseln des Staats zu befreien, hat durch die Corona-Pandemie an Anziehungskraft verloren. Die Mehrheit wünscht sich heute von der Politik Schutz, nicht Entfesselung.

Mit Sebastian Kurz wird gerade jener Politiker demontiert, der vielen Konservativen als Hoffnungsträger und Vorbild galt.
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Mit der Verteidigung konservativer Werte zielen diese Parteien bei Fragen wie Gleichstellung, Homo-Ehe oder Sterbehilfe am Lebensgefühl jüngerer Generationen vorbei. Und beim dominanten Zukunftsthema Klimakrise sind Konservative in der Defensive, weil sie die von allen Experten geforderten Maßnahmen ihrer Kernklientel in der Wirtschaft wie in der Bauernschaft nicht zumuten wollen.

Politikmarketing

Nun hat die ÖVP-Inseratenaffäre mit diesen Problemen nicht direkt zu tun, indirekt aber schon. Die Erneuerung, die Kurz und seine Prätorianer 2017 versprachen, war vor allem eine des Politmarketings, für dessen Umsetzung zu allen Mitteln gegriffen wurde – mutmaßlich auch illegalen. Aber die geschliffene Rhetorik und PR der türkisen Volkspartei haben das programmatische Vakuum, unter dem die Partei bereits vor Kurz litt, nur verdeckt. Der Skandal ist kein Unfall, sondern ein Geburtsfehler der türkisen Bewegung.

In Deutschland verfolgte Angela Merkel dieses Ziel mit legalen Mitteln, indem sie zur Kanzlerin für alle mutierte und viele Probleme ignorierte. Armin Laschets Pannenwahlkampf war die Fortsetzung dieses schwammigen Kurses ohne die Souveränität der Langzeitkanzlerin. Kurz und Laschet sind Gegenpole in ihrer Parteienfamilie – und weisen beide keinen Ausweg aus der Sackgasse.

Auch sozialdemokratische Parteien schaffen es selten, mehr als ein Viertel der Stimmen zu gewinnen. Aber die Zersplitterung des rechten Lagers hilft ihnen immer öfter an die Macht. Anders als bei den Konservativen weiß man, wofür sie stehen: für soziale Gerechtigkeit im Rahmen einer regulierten Marktwirtschaft.

Auf konservative Parteien lauert die Versuchung, mit nationalistischen und daher antieuropäischen Parolen wieder an Boden zu gewinnen. Boris Johnson in Großbritannien, Viktor Orbán in Ungarn und die PiS in Polen zeigen, wie das geht – und auch Kurz geriet allzu oft in dieses Fahrwasser. Doch das verletzt nicht nur die Interessen der Wirtschaft, sondern auch die traditionellen Werte christlich-sozialer Parteien. Es ist zu hoffen, dass diese ein anderes Rezept für politische Erfolge finden als manipulatives Marketing und dumpfen Nationalismus. Für die Zukunft der EU hängt viel davon ab. (Eric Frey, 15.10.2021)