Demonstranten der Schiitenparteien Hisbollah und Amal verbrannten am Donnerstag das Bild von Richter Tarek Bitar, aber auch jenes der US-Botschafterin im Libanon, Dorothy Shea.

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Für die einen ist Tarek Bitar der tapfere Ritter, der für Gerechtigkeit für die Opfer der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 kämpft – in den Augen anderer ist er ein Instrument im Kampf zwischen den politischen Blöcken im Libanon. Der Jurist, der die Untersuchungen über die durch kriminelle Fahrlässigkeit verursachte Katastrophe führt und dabei auch Politikern nahekommt, stand im Mittelpunkt der Proteste der schiitischen Parteien Hisbollah und Amal am Donnerstag, die in an den Bürgerkrieg gemahnende Schießereien in der libanesischen Hauptstadt ausarteten.

Am Freitag wurde Staatstrauer für die sechs Toten des Vortags angeordnet, laut offiziellen Quellen allesamt schiitischen Hintergrunds. Das scheint die Version der Ereignisse zu stützen, wonach die Demonstranten angegriffen wurden – angeblich von Scharfschützen – und danach das Feuer erwiderten. Die von der Hisbollah für die ersten Schüsse verantwortlich gemachten rechtsgerichteten christlichen Forces Libanaises (FL) von Samir Geagea wiesen die Anschuldigungen zurück.

Während die Hisbollah den FL vorwarf, den Libanon bewusst in einen bewaffneten Konflikt ziehen zu wollen, machte Geagea die "unkontrollierten und überall verfügbaren Waffen (der Hisbollah), die die libanesischen Bürger immer und überall bedrohen", verantwortlich.

Verfassung verletzt?

Für die Untersuchung der Explosionskatastrophe bedeutet diese neue Eskalation nichts Gutes. Ministerpräsident Najib Mikati, der erst seit einem Monat im Amt ist, sprach in einem Interview mit Reuters von möglichen "verfassungsrechtlichen Fehlern": Das klingt so, als könnte er sich jener Seite anschließen, die Richter Bitar vorwirft, seine Befugnisse überschritten zu haben. Allerdings trat Donnerstagabend Präsident Michel Aoun im Fernsehen auf und versicherte, dass die Ermittlungen fortgeführt würden.

Unmittelbarer Auslöser der Proteste war, dass Bitar am Mittwoch nach einer Beschwerde gegen ihn im Amt bestätigt worden war. Die war erfolgt, nachdem er am Montag einen Haftbefehl gegen den früheren Finanzminister und Amal-Abgeordneten Ali Hassan Khalil hatte ausstellen lassen, weil dieser einer Vorladung nicht gefolgt war. Khalil steht wegen finanzieller Kooperation der Hisbollah auch unter US-Sanktionen. Bei den Protesten am Donnerstag wurden nicht nur Plakate mit Bitars Bild, sondern auch welche mit dem der US-Botschafterin im Libanon, Dorothy Shea, verbrannt.

Bitar ist bereits der zweite Richter, der die Untersuchungen leitet, zu den politisch Verantwortlichen durchdringen will und angegriffen wird: Sein Vorgänger Fadi Sawwan wurde im Februar 2021 wegen "berechtigten Misstrauens" bezüglich seiner Neutralität von den Ermittlungen abgezogen. Auch er war Khalil und einem zweiten Amal-Ex-Minister, Ghazi Zaiter, zu nahe gekommen.

Hisbollah-Mitglieder hat Bitar nicht vorgeladen, und er hat auch nicht etwa nur Schiitenpolitiker im Visier. Der sunnitische Ex-Minister Nohad Machnuk steht ebenfalls auf seiner Liste – und beteiligt sich an Versuchen, Bitar aus dem Amt zu drängen.

Reserviert und bescheiden

Der 47-jährige Katholik Tarek Bitar stammt aus dem Nordlibanon, ist parteilos und seit 2017 Chef des Strafgerichtshofs in Beirut. Als er in das Amt berufen wurde, mussten die Medien lange suchen, bevor sie überhaupt Fotos von ihm fanden: Der Jurist ist äußerst reserviert, nimmt am gesellschaftlichen Leben nicht teil, tritt nicht öffentlich auf und spricht niemals mit der Presse.

Bitar soll mit seiner Frau, einer Apothekerin, und seinen zwei Kindern in einer bescheidenen Wohnung in Nordbeirut leben. Seine Familie steht inzwischen unter Polizeischutz. Er wird als verschlossen, von niemandem ansprechbar, mutig, stur und selbstbewusst bis zur Arroganz beschrieben.

Für die Familien der Opfer vom 4. August 2020 verkörpert Bitar die Hoffnung auf Aufklärung, ihre Kampagnen für ihn – etwa in sozialen Medien – gehen angesichts der Mobilisierungskraft seiner Gegner jedoch fast unter. 14 Monate nach der Explosion, bei der mehr als 210 Personen getötet und tausende verletzt wurden und etwa 300.000 ihre Wohnungen verloren, sind die Ermittlungen noch immer im Anfangsstadium. Sie haben sich bisher fast nur gegen die Hafen- und Zollbehörden, aber nicht gegen politische Verantwortliche gerichtet.

Am Abend des 4. August 2020 hatte ein Feuer im Hafen von Beirut gelagerte Chemikalien – 2750 Tonnen Ammoniumnitrat – zur Explosion gebracht. Es war seit 2013 dort gelagert gewesen, mit Wissen der Behörden. Die Explosion richtete verheerende Zerstörungen nicht nur im Hafen, sondern auch im angrenzenden Stadtviertel an. Proteste erzwangen einen Rücktritt der Regierung. Jedoch erst 13 Monate danach gelang die Bildung einer neuen.(ANALYSE: Gudrun Harrer, 16.10.2021)