Seit knapp einer Woche hat dieses Land einen neuen Bundeskanzler, und die Grünen haben damit einen neuen Ansprechpartner in der Koalition. Wie neu sich das Regieren mit Alexander Schallenberg tatsächlich anfühlt, wird sich noch weisen – seine ersten Auftritte ließen eher auf die Fortsetzung des Altbekannten schließen. Dass die Grünen durch ihre Standfestigkeit erzwangen, dass Sebastian Kurz nach den Hausdurchsuchungen und Enthüllungen in der Vorwoche zumindest einen "Schritt zur Seite" tat, machte sich zunächst nicht bezahlt. In jüngsten (seriösen) Umfragen verloren sie zwar nicht so viel wie die ÖVP, aber dennoch recht deutlich. Und die Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank ließen sie deutlich spüren, dass "das Vertrauen angeknackst ist", wie auch der neue Bundeskanzler formulierte.

Auf der Habenseite steht für die Grünen nach dieser ersten Woche der Regierung Schallenberg die Budgetrede im Nationalrat. Das Kernstück ihres Regierungsvorhabens, die ökosoziale Steuerreform, ist nun auf Schiene. Dasselbe gilt für Klimaticket und Plastikpfand. Beides ist, bei aller Kritik an den Details, ein Erfolg für die Grünen.

Die ÖVP-Krise könnte eine Chance für die Grünen sein.
Foto: APA/HANS PUNZ

Grundsätze?

Was künftige politische Vorhaben betrifft, sollten die Grünen aus den neuesten Chats gelernt haben: Grundsätze? Werte? Ideologie gar? Weit gefehlt. Die türkise ÖVP unter Sebastian Kurz startete mit einem Verrat an den Familien. Der 2017 bereits ausverhandelte Pakt zwischen dem damaligen Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) über den Ausbau der Nachmittagsbetreuung hätte vielen österreichischen Familien bei der Bewältigung ihres Alltags weit mehr geholfen als der nun üppige "Familienbonus" – der vor allem wieder gut verdienenden Vätern zugutekommt. Verraten hat die türkise ÖVP unter Kurz auch jene erwerbstätigen, "leistungswilligen" Frauen, die schon vor vier Jahren einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung hätten haben können. Diesen Fortschritt für den Wirtschaftsstandort haben die Türkisen dem Aufstieg von Kurz geopfert.

Das lässt tief blicken, erschließt aber auch neue Möglichkeiten. Ein "Geht nicht" von der ÖVP dürfen die Grünen nicht mehr akzeptieren – schon gar nicht mit dem Verweis auf ideologische rote Linien. Ganztagsschule, Ausbau und Anrecht auf Kinderbetreuung ab dem zweiten Lebensjahr? Das darf kein Problem mehr sein. Auch die Sozialpartner, allen voran die "Frauen in der Wirtschaft", sind dafür.

Mit etwas mehr Mut zur eigenen Courage sollten die Grünen ab sofort an alle Themen herangehen. Reform des Bildungssystems, gemeinsame Schule der Zehn- bis 19-Jährigen? Mehr Geld und ein neues Konzept für mehr und bessere Integration? Einfordern, darauf bestehen, nicht lockerlassen. Etwas wird gehen. Denn trotz versteckter Drohungen: Auch die ÖVP kann kein Interesse an schnellen Neuwahlen haben.

Wenn die vergangene Woche etwas gezeigt hat, dann wohl das: Die Grünen haben politisch nur mehr wenig zu verlieren – aber viel zu gewinnen, wenn sie standhaft bleiben. (Petra Stuiber, 15.10.2021)