Altkanzler Franz Vranitzky im Interview: "Ich neige dazu, das Treffen von Pamela Rendi-Wagner mit Herbert Kickl nicht überzubewerten."

Robert Newald

Franz Vranitzky betrachtet die SPÖ mit relativer Distanz. Ratschläge gibt er selten – zuletzt vor einigen Wochen beim 30-Jahre-Fest des KreiskyForums, wo er Pamela Rendi-Wagner empfahl, die Parteizentrale intellektuell aufzurüsten. Aber Vranitzky war der letzte SPÖ-Kanzler, der bei Wahlen an die 40-Prozent-Grenze herankam – das war immerhin 1995 – und nach Bruno Kreisky auch der am längsten regierende. Von ihm stammt die sogenannte "Vranitzky-Doktrin", wonach die SPÖ auf keinen Fall mehr eine Koalition mit der rechtspopulistischen FPÖ eingehen solle.

Vranitzky wurde 1986 nach dem Rücktritt von Fred Sinowatz Kanzler und kündigte sofort nach der Machtübernahme von Jörg Haider bei den Freiheitlichen die damals bestehende (von Kreisky eingefädelte) Koalition mit der FPÖ auf. Die "Vranitzky-Doktrin" kam jetzt wieder ins Spiel, nachdem Pamela Rendi-Wagner im Zuge der Regierungskrise Gespräche mit der FPÖ geführt hatte.

STANDARD: Bei der letzten Wahl, die Sie als Bundeskanzler geschlagen haben, das war 1995, hat die SPÖ 38,1 Prozent bekommen. Was ist seither mit der Partei passiert?

Vranitzky: Die historischen Abläufe kennen wir ja. Der erste wirkliche Rückschlag war nach der Wahl 1999, als Schüssel entgegen seiner Ansage, dass er in Opposition geht, wenn er Dritter wird, mehr oder weniger geheim mit Haider verhandelt hat und so Viktor Klima und die SPÖ aus dem Kanzleramt eliminiert hat.

STANDARD: Anmerkung – die SPÖ war damals noch mit 33,1 Prozent stärkste Partei.

Vranitzky: Das war sicher ein schwerer Schock für die Sozialdemokratie, weil die SPÖ bei der zweiten Wahl von Thomas Klestil zum Bundespräsidenten 1998 keinen eigenen Kandidaten aufgestellt hat und sich erhoffte, dass Klestil bei der nächsten Koalitionsbildung bei der Stange bleibt und eine große Koalition macht. Aber auch er wurde von Schüssel übertölpelt. Von da an ist es kompliziert für die Sozialdemokratie geworden, sie hat sich dann zwar erholt, hat mit Gusenbauer und Faymann wieder den Ballhausplatz erobert, hat aber dann in den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts möglicherweise ein bisserl die Überfuhr versäumt.

STANDARD: Inhaltlich?

Vranitzky: Inhaltlich. Dann kam es zu den überaus unschönen Vorgängen um Werner Faymann. Das war der nächste Tiefpunkt. Ich bedauere das bis heute. Es war ein einmaliger Vorgang, der sehr schwer zu erklären ist. Christian Kern ist dann eigentlich gemeinsam mit seinem ÖVP-Kollegen Mitterlehner unter die Räder des Systems Kurz gekommen. Ich gehöre nicht zu denen, die jetzt die Sache der Sozialdemokratie für verloren erachten, ganz im Gegenteil. Die Frage ist das Wie.

STANDARD: Zum Beispiel?

Vranitzky: Diese Partei könnte sich auf ihre alten Tugenden besinnen. Das beginnt einmal mit der innerparteilichen Nörgelei …

STANDARD: Doskozil …

Vranitzky: Ich nenne keine Namen. Die alte Tugend ist, die unterschiedlichen Standpunkte natürlich auszutragen, aber dabei das Erscheinungsbild der Partei nach außen nicht zu stören. Im Interesse der politischen Kampfkraft. Aber nach zusammengestrittener Position muss man sie einheitlich nach außen vertreten: Einheit in der Vielfalt. Außerdem: Jede sozialdemokratische oder meinetwegen auch sozialliberale Politik muss an der Balance der gesellschaftlichen Schichten arbeiten. Die Unterschiede dürfen nicht zu groß werden. Sonst lässt man Enttäuschungen zu – und das führt in der Regel zu rechtspopulistischen und rechtsextremen Strömungen. Das muss man auch organisatorisch unterstützen. Eine Anregung: die Bundesgeschäftsstelle der SPÖ personell zu verstärken. Wieder ein internationales Sekretariat einzurichten. Ein weiterer Komplex ist lebenswichtig, dass die europäische Einigung nicht ein Hobby einiger Europabegeisterter ist. Das europäische Einigungswerk ist übrigens derzeit gefährdet. Und wenn es keine europäische Einigung gibt, dann sind wir den asiatischen und amerikanischen Kräften, auch dem ungeklärten Verhältnis zu Russland, ausgeliefert.

STANDARD: Ich wüsste jetzt nicht, wer ein prominenter Europapolitiker in der SPÖ ist.

Vranitzky: Das Team der Europaabgeordneten könnte nach Österreich wirken. Aber das würde eine Haltungsänderung bedingen.

STANDARD: Die SPÖ hat zur Migration kein schlüssiges Konzept.

Vranitzky: Das haben die anderen auch nicht. Mauern und Zäune sind kein schlüssiges Konzept. Die Wahrheit ist, dass man keine vernünftigen und menschenwürdigen Antworten hat. Man muss einen praktikablen Weg zwischen dem Management der Migration und Asylanten und der Berücksichtigung der Ängste der Bevölkerung finden.

STANDARD: Was ist da die Voraussetzung? Mehr konzeptuelle Arbeit? Mehr und bessere Köpfe?

Vranitzky: Im Übrigen hat auch Europa kein schlüssiges Konzept. Einer der nächsten Schritte müsste sein, der europäischen Sozialdemokratie wieder ein gemeinsames Gesicht zu geben. Vor 30 Jahren haben wir ein vorzeigbares europäisches Gesicht der Sozialdemokratie gehabt. Die Deutschen fassen jetzt wieder Tritt, da sollten wir ansetzen.

STANDARD: Die derzeitige Parteivorsitzende steht aber ziemlich allein da. Müsste die SPÖ nicht personell aufrüsten?

Vranitzky: Die Unterstützung der Parteivorsitzenden lässt sich auch darstellen. Eine interessante Idee wäre, auf Länder- und Gemeindeebene die politische Arbeit zu harmonisieren. Erfolge auf der Kommunalebene, wie bei der Stichwahl von Bürgermeistern in Oberösterreich, zeigen, wie es geht.

STANDARD: Eine Grassroots-Bewegung?

Vranitzky: Ja, das könnte man machen. Die Sozialdemokratie kann sich weiterentwickeln. Das muss man sich immer vor Augen halten.

STANDARD: Wie schätzen Sie das Verhalten von Rendi-Wagner in der derzeitigen Situation ein? Sie hat versucht, eine Art Viererkoalition unter Einbeziehung der FPÖ zu bilden, was schiefgegangen ist. War das richtig?

Vranitzky: Sie spielen auf das Treffen mit Kickl an. Ich neige dazu, das nicht überzubewerten. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Volkspartei ein recht bescheidenes Erscheinungsbild abgab, haben viele Gespräche stattgefunden. Ich erinnere mich an einen Sager des Werner Kogler, es sollen einmal alle mit allen reden. Ich kann den Inhalt des Gesprächs mit Kickl nicht beurteilen, weil ich nicht dabei war. Die Überlegung, eine Viererkoalition oder eine Dreierkoalition mit freier Meinungsbildung zu bilden, war immerhin eine Option, über die man nachdenken konnte. Warum denn nicht? Es war ja auch nicht klar, ob nicht die Koalition Kurz-Kogler auseinanderbricht. Ich lasse jetzt einmal die Kirche im Dorf und sage, es haben alle möglichen Gespräche stattgefunden …

STANDARD: Es war also kein Verstoß gegen die Vranitzky-Doktrin?

Vranitzky: Ich reite darauf nicht herum, obwohl ich in einem anderen Gespräch schon klargemacht habe, dass eine Koalition mit Kickl nicht ins Auge gefasst werden sollte. Das verbietet der Common Sense. Man muss auch nicht das eigene Licht unter den Scheffel stellen – wenn man das mehr als seltsame Debüt des neuen Kanzlers vor Augen hat ...

STANDARD: Noch einmal, wie kann die Sozialdemokratie ihren alten Stellenwert in der politischen Landschaft bekommen?

Vranitzky: Sigmar Gabriel (SPD-Politiker, Anm.) hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Mehr Mut. Das ist eine Empfehlung an alle Sozialdemokraten. Bildungspolitik ist ein Weg. Die Abgrenzung der Schultypen und die Beibehaltung der alten Muster durch die Kurzregierung behindern die Kinder aus einkommensschwachen Familien in ihrem Aufstieg.

STANDARD: Mit einem Wort, die Sozialdemokratie soll mutig sein und volle Pulle auf die Ganztagsschule losgehen, damit die Migrantenkinder ordentlich Deutsch lernen und sich integrieren.

Vranitzky: Zum Beispiel. Wir alle kennen junge Leute, die hier leben, gut Deutsch sprechen, Steuern zahlen und so weiter, Mitglieder unserer Gesellschaft geworden sind, aber nicht wählen dürfen.

STANDARD: Das würde heißen, die Einbürgerung massiver zu forcieren.

Vranitzky: Die haben die gleichen Interessen und Lebensschwerpunkte, die wir auch haben. Das sind keine Eindringlinge. (Hans Rauscher, 17.10.2021)