Neuer Kanzler Schallenberg, alter Vizekanzler Kogler: In der Sozialpolitik verläuft die Front nicht nur zwischen den Koalitionsparteien.

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Was die Sozialpolitik betrifft, malt die SPÖ bereits nach einer Woche den Teufel an die Wand. Der neue Regierungschef Alexander Schallenberg (ÖVP) sei drauf und dran, dem "Schattenkanzler" Sebastian Kurz nach dem Mund zu reden, sagt Vizeklubchef Jörg Leichtfried. Da drohe nichts anderes als die Fortsetzung einer "menschenverachtenden und unsozialen" Politik gegen Arbeitslose.

Wie kommt Leichtfried darauf? Der Sozialdemokrat bezieht sich offenbar auf ein Interview in der Gratiszeitung "Heute". Da kündigte Schallenberg beim Thema Arbeitslose an: "Der Kurs wird jedenfalls fortgesetzt."

Gegangen ist es dabei aber an sich nur um einen Nebenaspekt. Ende September ist die im Zuge der Corona-Krise verhängte Erhöhung der Notstandshilfe ausgelaufen: Normalerweise beträgt diese Folgeleistung 92 Prozent des Arbeitslosengeldes, zuletzt war sie aber auf die gleiche Höhe angehoben worden. Macht die Regierung nicht noch einen Rückzieher, werden für Betroffene nach Ende ihres Anspruchs auf Arbeitslosengeld nun wieder die schlechteren Konditionen gelten.

Was Arbeitslose bekommen sollen

Mittelfristig reichen die in der Regierung gewälzten Pläne aber deutlich weiter. Geht es nach manchen Kräften in der ÖVP, dann soll das Arbeitslosengeld künftig viel stärker mit der Bezugsdauer sinken. Sprengstoff für die Koalition?

Das Arbeitslosengeld dürfe für niemanden unter die geltenden 55 Prozent des Nettolohns sinken, haben die Grünen immer wieder eingewendet – und dabei auch in der Kanzlerpartei Verbündete: Wie die "Wiener Zeitung" berichtet, hat der Arbeitnehmerbund ÖAAB, der vom einflussreichen Vizeklubchef August Wöginger angeführt wird, das gleiche Ziel ins neue Programm geschrieben. Ein degressives Arbeitslosengeld liefe dann insgesamt auf eine Erhöhung hinaus, die den Staat mehr Geld kosten würde: Wer erst seit kurzem keinen Job hat, bekäme mehr als bisher, wer länger arbeitslos ist, gleich viel wie bisher.

Die Front verläuft damit quer durch die ÖVP. Denn der Wirtschaftsbund, ein anderer Flügel der Partei, stellt sich diese Reform ganz anders vor. Demnach sollten Arbeitslose nach langer Dauer sehr wohl weniger, etwa 40 Prozent des Nettolohns, herausbekommen. Das sei ein Anreiz, sich mit voller Motivation einen Job zu suchen.

Arbeitsminister Martin Kocher, ebenfalls im Dienst der ÖVP, gibt sich moderater. Er könne sich nicht vorstellen, stark unter die 55 Prozent zu gehen, sagte er unlängst. Bis zum Frühjahr will er eine große Arbeitsmarktreform, die noch andere Elemente beinhaltet, ausverhandelt haben. Dabei geht es etwa auch um die Frage, ob Arbeitslose zur staatlichen Leistung künftig weniger dazuverdienen dürfen als bisher.

Wie viel die Pensionen kosten dürfen

Heikel ist für die Regierung auch das Thema Pensionen – sofern sie ein Stück weiter in Zukunft blicken will. Wieder gibt es in der Kanzlerpartei entgegengesetzte Interessen.

Zumindest war dies der Fall, bevor Sebastian Kurz nach seiner Machtübernahme in der ÖVP eine auffällige Kurskorrektur vollzogen hat: Urplötzlich waren die regelmäßigen Rufe der Wirtschaftsvertreter in der Partei nach einer Pensionsreform verstummt. ÖVP und Grüne stutzten die Frühpensionsvariante der "Hacklerregelung" zurück, ansonsten spielte die Kostenfrage kaum eine Rolle: Auch heuer beschloss die Koalition eine Pensionserhöhung über die gesetzlich vorgesehene Inflationsanpassung hinaus.

Doch die Sachlage macht es schwieriger, das Thema beiseitezuschieben. Schon jetzt machen jene Zuschüsse des Staates, die zusätzlich zu den Beiträgen der Versicherten ins Pensionssystem fließen, 23 Prozent des Bundesbudgets aus. In den vergangenen Jahren war die Lage zwar relativ stabil, pessimistischere Annahmen wurden immer wieder unterboten. Aber bereits für die nähere Zukunft lässt der Umstand, dass die geburtenreiche Babyboomer-Generation ins Pensionsalter kommt, einen Kostenanstieg erwarten – wobei die Prognosen zunehmend schlechter ausfallen.

Laut einer Budgetvorschau des Finanzministeriums von 2019 sollen die gesamtstaatlichen Ausgaben für sämtliche Pensionen inklusive Beamte von 13,3 Prozent im Jahr 2018 bis 2035 auf 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigen – die Beitragseinnahmen sind hier nicht gegengerechnet. Der Ageing Report der EU weist einen ähnlichen Trend aus (DER STANDARD berichtete). In beiden Fällen zeichnen die Szenarien ein düstereres Bild als in der jeweils vorangegangenen Prognose.

Abgesehen von den Neos fordert keine Parlamentspartei eine Pensionsreform ein, Pensionistenvertreter wie jene der SPÖ zweifeln die Voraussagen an. Mancher Wirtschaftsforscher hingegen sagt: Wolle der Staat Spielraum für wichtige Investitionen in andere Bereiche gewinnen, müssten die Kosten beim riesigen Brocken Pensionen gedämpft werden. (Gerald John, 18.10.2021)