Ministerin Köstinger sprang Kurz nicht nur beim sommerlichen Wahlkampf in Oberösterreich zur Seite: Im ORF verteidigte sie den gefallenen Kanzler gegen angebliche "Doppelmoral".
Foto: fotokerschi.at / Kerschbaummayr

Elisabeth Köstinger wirkte ehrlich empört. Als die Ministerin in der ORF-Sendung "Im Zentrum" die "Heuchelei und Doppelmoral" beklagte, die Sebastian Kurz und seinen Getreuen widerfahre, klang das nicht bloß nach pflichtschuldiger Erfüllung einer zurechtgelegten Verteidigungsstrategie. Irgendwann leiste sich doch jeder einen Fehltritt, den er hinterher bereue, warf Köstinger ein. Würden die an Kurz angelegten Maßstäbe für alle gelten, dürfte niemand, der einmal einen Kraftausdruck gebraucht hat, je eine Führungsposition übernehmen.

ORF

Es ist ein Argument, das viele in der ÖVP bemühen. Politik sei ein raues Geschäft und ein Bundeskanzler auch nur ein Mensch, heißt es in allen möglichen Variationen. Kurzum: Die anderen, die sich nun so ereiferten, seien auch nicht besser.

Größere Sünden als der "Arsch"

Hat das nicht etwas für sich? Der Einwand der Kurz-Verteidiger ist nur in einem Punkt stichhaltig. Die verwendeten Schimpfworte mögen konservative ÖVP-Wähler schockieren, sind tatsächlich aber die lässlichste Sünde, die sich in den publik gewordenen Chats des türkisen Klüngels offenbart. Quer durch alle Schichten lästern Menschen ordinär über ungeliebte Mitbürger. Zwar lässt sich darüber diskutieren, ob ein Bundeskanzler so viel Ehrfurcht vor dem eigenen Amt haben sollte, um sich verbal im Zaum zu halten – doch ein Rücktrittsgrund ist der "Arsch", den Kurz seinem Vorgänger Reinhold Mitterlehner nachrief, für sich genommen nicht.

Viel schlimmer ist aber all das, was Köstinger beim ORF-Auftritt ebenso ausgeblendet hat wie zuvor schon der sogenannte Ethikrat der ÖVP. Von der Sabotage der rot-schwarzen Regierung zu Zeiten Mitterlehners über gezielte Meinungsmanipulation bis hin zur versuchten Gängelung von Institutionen wie der Kirche und Wirtschaftsforschungsinstituten: Die Erkenntnisse der Staatsanwälte zeichnen ein Bild der moralischen Niedertracht, die weit über Unflätigkeiten hinausgeht.

Andere mit in den Sumpf ziehen

Auch da packen ÖVP-Vertreter ihr Paradeargument aus. Manche tun das nicht nur in subtil geführten Hintergrundgesprächen. Andreas Hanger, türkiser Spezialist für die schmutzige Gegenattacke, hat mit einem Konvolut an Vorwürfen via Twitter versucht, die gesamte Medien- und Politszene mit in den Sumpf zu ziehen. Botschaft: Wer selbst im Glashaus sitzt, solle nicht mit Steinen werfen.

Doch der Rundumschlag geht ins Leere. Natürlich läuft auch abseits der ÖVP nicht alles supersauber ab. Nicht erst seit Kurz gibt es eine Art der Inseratenkorruption. Staatliche Institutionen schalten Anzeigen in auserwählten Medien und erhoffen sich dafür wohlwollende Berichterstattung. Ob und in welcher Form diese Gegenleistung tatsächlich gewährt wird, lässt sich aber nicht einfach über einen Kamm scheren. Von einer unausgesprochenen, versuchten Beeinflussung ist es ein weiter Weg bis zu einem generalstabsmäßigen System der Schamlosigkeit, wie es die Ermittlungsakten der Justiz nahelegen.

Und selbst wenn andere Akteure ebenso wenig Genierer haben – warum sollte das die türkisen Machenschaften akzeptabel machen? Steuerhinterziehung wird ja auch nicht zum Kavaliersdelikt, nur weil genügend Menschen erfolgreich Geld am Fiskus vorbeischleusen. Ebenso wenig spricht der Umstand, dass viele sexuelle Übergriffe ungeahndet bleiben, den einzelnen ertappten Täter frei.

Dass Kurz politisch nun zur Rechenschaft gezogen wurde, ist nur insofern ungerecht, als andere Politiker ungeschoren davongekommen sein mögen – den eigenen Karriereknick hat sich der gefallene Kanzler schon selbst zuzuschreiben. Der Fingerzeig auf alle anderen beweist letztlich nur eines: mangelnde Einsicht. (Gerald John, 18.10.2021)