Musik bringt die Leute zusammen, ist vielleicht aber nur ein evolutionäres Zufallsprodukt.
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Musik ist ein unnötiger Spaß. Zumindest, wenn man dem einen oder anderen Kognitionsforscher Glauben schenkt. Steven Pinker zum Beispiel, einem der berühmtesten Wissenschafter und Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher. Er vertritt die Ansicht, dass wir heute nicht singen und musizieren, weil das aus der Notwendigkeit oder einem evolutionären Vorteil heraus entstanden ist – sondern einfach, weil wir es können und es Spaß macht. Musik als angenehmes Nebenprodukt also.

In seinem Buch "Wie das Denken im Kopf entsteht" ("How the mind works") führt er Musik auch als Beispiel dafür an, dass nicht jedes Verhalten als sinnvolle Anpassung entstanden ist. Im Gegensatz übrigens zu Charles Darwin, dem Urvater der modernen Evolutionstheorie, der vermutete: Männer musizieren, um eine Partnerin zu beeindrucken und so bessere Erfolgsaussichten bei der Fortpflanzung zu haben. Pinkers Aussage könnte allerdings einen Stein ins Rollen gebracht haben – oder war zumindest daran beteiligt, die Diskussion um den evolutionären Sinn des Musikmachens anzufachen.

Die Konsequenz heute: eine breit gefächerte Debatte, die das Fachjournal "Behavioral and Brain Sciences" mit einem Themenschwerpunkt unterstützt. Zwei Hauptartikel, schon vor einem Jahr online veröffentlicht, bilden die Grundlage der Diskussion. Und in beiden sieht das jeweilige "Lager" die Musik als wichtiges Werkzeug im sozialen Miteinander des Menschen. Während die einen aber den Fokus auf spezifische Zwecke legen, die mit bestimmten Arten des Musikmachens einhergehen, sehen die anderen das Thema quasi holistisch: Musik war demnach eine wesentliche Hilfe zum Schaffen und Erhalten sozialer Beziehungen im Allgemeinen.

Nähe und Vertrauen in Menschengruppen

Dieser Ansicht ist auch Tecumseh Fitch, Kognitionsbiologe an der Universität Wien: "Unser Forschungsansatz geht von der Idee aus, dass die Musik unseren Vorfahren ein mächtiges Werkzeug an die Hand gab, um dauerhafte soziale Bindungen zu knüpfen." Das ist kein ganz neuer Ansatz – und auch nicht unumstritten. Fitch versucht jedoch gemeinsam mit anderen Forschenden, darunter Bronwyn Tarr von der Universität Oxford und Adena Schachner von der University of California San Diego, die intuitiv plausible Idee in Zusammenhang mit der Theorie der Gen-Kultur-Koevolution weiterzuentwickeln und Hinweise dafür zu sammeln.

Die Argumentation: Musizieren in einer Gruppe aktiviere Schaltkreise im Nervensystem, die positive Gefühle der Nähe und des Vertrauens erzeugen. Fitch dazu: "Als sich der Mensch weiterentwickelte und immer stärker davon abhängig wurde, dass Gruppen gut zusammenarbeiten, war die Musik eine entscheidende Schlüsselinnovation. Sie verhalf unserer Spezies zu den nötigen komplexen und positiven Gruppeninteraktionen."

Natur und Kultur

Ausgangspunkt ist eine Art Proto-Musikalität, die sich von synchronisierten Lauten anderer Tierarten unterscheidet. Bei sozialen Lebewesen, insbesondere aber beim Menschen könnte eine Koevolution, also sich gegenseitig bedingende Entwicklungen auf biologischer und kultureller Ebene, stattgefunden haben. Wenn gemeinsames Musizieren positive Effekte auf das Zusammenleben hatte, kann sich das auch auf Überleben und Fortpflanzung niedergeschlagen haben. So werden vorteilhafte Gene in der Regel von Generation zu Generation weitergegeben. Das könnte auch in Sachen Musikalität eine Rolle gespielt haben, was wiederum die kulturelle Entwicklung des Musikmachens beeinflusst.

Entsprechend reichen die Indizien, die das internationale Forschungsteam heranzieht, über die Neurowissenschaft hinaus (die selbst etwa zeigt, wie Belohnungssysteme im Gehirn mit Musikwahrnehmung und -praxis zusammenhängen und bei Primaten auch beim Erhalten sozialer Bindungen eine Rolle spielen). Vom Fachgebiet der Primatologie über Paläoanthropologie und Archäologie bis zur Ethnomusikologie werden relevante Forschungsergebnisse gesammelt. Wie Sprache ist Musik ein Charakteristikum menschlicher Gemeinschaften, das in allen bekannten Kulturen auftaucht – ob mittels Gesang oder Instrumenten.

Musik statt Fellpflege

Ob man in grauer Vorzeit gesungen hat, ist schwierig zu beweisen. Die ältesten bisher gefundenen, recht eindeutigen Musikinstrumente sind zumindest rund 35.000 Jahre alt. Dabei handelt es sich um Elfenbein- und Knochenflöten aus dem heutigen Süddeutschland. Immer wieder werden aber auch Vermutungen angestellt, denen zufolge wichtige steinzeitliche Stätten wie Stonehenge und Göbekli Tepe nach klanglichen Gesichtspunkten erbaut wurden.

Evolutionsbiologisch bemerkenswert ist, dass die menschliche Fähigkeit, sich Lieder zu merken und diese wiederzugeben, im Vergleich zu anderen Primaten hervorsticht. Sie könnte sich mit immer komplexer werdenden Sozialsystemen mitentwickelt haben. Das für Affen typische "Grooming", also die gegenseitige Fellpflege, konnte beim Menschen und seinen nächsten Verwandten nicht mehr im gleichen Ausmaß beibehalten werden: Die Bezugsgruppen wurden größer, andere Aktivitäten benötigten Zeit. Auch hier könnte das Musikmachen wichtig gewesen sein – das funktioniert immerhin zu mehreren Personen, um die man sich somit gleichzeitig "kümmern" kann.

Schweizer Taschenmesser der Sozialkompetenz

Das Forschungsteam geht dabei aber nicht davon aus, dass sich die Musikalität als Lösung für ein einzelnes Problem entwickelt hat, beispielsweise, um Kleinkinder zu beruhigen, friedliche Absichten zu kommunizieren oder sexuelle Partnerschaften anzubahnen. Eine einzige ursprüngliche Funktion hatte Musikalität nicht, vermuten die Fachleute. Stattdessen stecke dahinter eine Art Schweizer Taschenmesser der Sozialkompetenz, das in unterschiedlichen Situationen hilfreich ist.

Anderer Ansicht ist das Team um den Harvard-Psychologen Samuel Mehr. Es tippt gerade auf solche spezifischen Kontexte, in denen das Singen und Musizieren einen Anpassungsvorteil lieferte. Darauf basierend könnten sich andere Anwendungen als nützliche bis nette Nebeneffekte entwickelt haben. Dieser Hypothese zufolge halfen etwa koordinierte rhythmische Aktivitäten wie Trommeln dabei, zu zeigen, wie stark eine zusammengehörende Gruppe ist. Gesang hingegen dürfte bei der Kinderbetreuung wichtiger gewesen sein.

Ein Nebenprodukt – wie Sex ohne Fortpflanzung

Auf der Grundlage dieser beiden Hauptthesen stehen 60 weitere Artikel, die im Fachblatt veröffentlicht wurden. In ihnen schließen sich Fachleute diesen Überlegungen an, widersprechen ihnen oder empfehlen weitere Ansätze, die es zu berücksichtigen gilt. Auch Steven Pinker hat sich mit einem der launigeren Kurzkommentare eingebracht: Unter der Überschrift "Sex and drugs and rock and roll" kritisiert er, dass die offensichtlichste Eigenschaft – nämlich dass Musik Spaß macht – in den Theoriekonstrukten gar keine Rolle spielt. "Was sollte uns davon abhalten, unsere Intelligenz einzusetzen, um uns [an Musik] zu erfreuen – so,wie wir es offenkundig und in fehlgeleiteter Anpassung mit Sex abseits der Fortpflanzung und mit Freizeitdrogen tun (zwei Beispiele für jene unter Ihnen, die wie ich nicht einmal Käsekuchen mögen)?"

Pinker ist freilich nicht der einzige Anhänger der Nebenprodukt-Hypothese, obwohl er andere Aspekte der Studien lobend erwähnt. Die kurzen Fachkommentare zeigen insgesamt, wie stark das Thema diskutiert wird. Sie erweitern aber auch den Blickwinkel. Etwa auf die Fragen, welche Rolle Gestik und Tanz bei der Entwicklung des Musikmachens spielen, welche Unterschiede es bei Menschen mit Entwicklungsstörungen gibt – und warum sich wohl die Sprache und nicht der Gesang als Hauptkommunikationsform durchgesetzt hat. Womöglich, weil man sich mit manchen Menschen einfach auf kein gemeinsames Musikgenre einigen kann. (Julia Sica, 19.10.2021)