Die Parteivorsitzenden von SPD, Grüne und FDP verhandeln jetzt die Details in Koalitionsgesprächen.

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Was kaum jemand vor einigen Monaten erwartet hat, scheint in diesen Wochen in Deutschland zu geschehen: Die von Langzeitkanzlerin Angela Merkel symbolisierte christdemokratische Hegemonie wird von einer Mitte-links-Koalitionsregierung der SPD, Grünen und der FDP unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz abgelöst.

Während Merkel nach 16 Jahren an der Macht eine in dieser Form beispiellose weltweite Abschiedstournee von Jerusalem und London bis Rom und Ankara, von Lob und Ehrungen überhäuft, im Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit absolviert, wird ihre Partei, die abgestürzte CDU, durch persönliche Rivalitäten und vielschichtige Gruppenkonflikte gefährlichen Zerreißproben ausgesetzt.

Die Koalitionsverhandlungen fangen erst jetzt richtig an, aber das nun vereinbarte gemeinsame Grundsatzpapier weckt deshalb Hoffnungen, weil die drei Partner, schneller als vorausgesagt, auch in solchen Streitfragen wie der Steigerung der Mindestlöhne oder der Absage an Steuererhöhungen eine Einigung erzielt haben.

Ob die wohl größte Hürde besonders bei einer Drei-Parteien-Koalitionsregierung, nämlich die Verteilung der Schlüsselressorts im Kabinett, ebenso schnell und reibungslos genommen wird, muss noch dahingestellt bleiben.

"In der Politik geht es immer und vor allem um die Macht", schrieb der große deutsch-amerikanische strategische Denker Hans J. Morgenthau. In diesem Fall handelt es sich um einen potenziellen Konflikt zwischen dem liberalen Parteichef Christian Lindner, der offen seinen Anspruch auf den Posten des Finanzministers erhoben hat, und dem grünen Spitzenpolitiker Robert Habeck, der dem Vernehmen nach den gleichen Posten in der neuen Regierung anstrebt.

Unabhängig von der Postenverteilung bleibt der 63-jährige sozialdemokratische Vizekanzler und Finanzminister der Merkel-Regierung der große und für die Medien so überraschende Sieger dieser Bundestagswahl. Noch im Mai lag Scholz nur bei 14 Prozent bei der Kanzlerumfrage und wurde samt seiner Partei "abgeschrieben". Nachdem die SPD, wenn auch nur knapp, die Wahlen gewonnen hat, sprechen sich jetzt mehr als zwei Drittel der Befragten für Scholz als Bundeskanzler aus. Im Politbarometer des ZDF rangiert Scholz nach Merkel an der zweiten Stelle.

Nicht nur seine Erfolgsgeschichte, sondern auch der Absturz des CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet und das nach Anfangslorbeeren enttäuschende Abschneiden der Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock zeigen die bedeutende Rolle der Persönlichkeiten in der Politik.

Ohne die Pannen der beiden ursprünglich favorisierten Rivalen hätte Scholz seinen Trumpf – als symbolträchtige Garantie der Stabilität, als "ein Mann der kleinen Gesten und leisen Reden" ("Der Spiegel", Nummer 41/2021), als "eine männliche Merkel-Inkarnation" – kaum ausspielen können.

Ob Scholz die SPD-Linke und das Duo Habeck/Baerbock die grüne Basis auf die Dauer zähmen können, wird erst die Zukunft zeigen.

Es liegen enorme Stolpersteine auf dem Weg zu einem Erfolg der bereits von ihren Architekten gefeierten "Zukunftskoalition" mit einem prekären Machtgefüge. (Paul Lendvai, 18.10.2021)