Schlips und Kragen 2.0: Das Metzinger Modeunternehmen Hugo Boss setzt nun auf legere Streetwear-Silhouetten – und jugendliche Attitüde.

Foto: Hugo Boss & Russell Athletic

Nur ein Selfie, bitte, bitte! Eben noch ist Khaby Lame neben dem US-Model Gigi Hadid und der deutschen Leichtathletin Alicia Schmidt durchs Stadion gelaufen, jetzt muss der Tiktok-Star (mit über einer Million Follower) backstage Wünsche erfüllen.

Dabei geht der Italiener im Gewimmel fast unter. Vor wenigen Minuten ist unter lautem Getöse die Show von Hugo Boss zu Ende gegangen. Das schwäbische Modeunternehmen hat während der Mailänder Modewoche mit dem Sportartikelhersteller Russell Athletic eine Veranstaltung aus dem Boden gestampft, die mehr einem amerikanischen Sportevent als einer Modenschau glich.

Die Marke lockte zu Popcorn, Eis und Burger raus an die Peripherie von Mailand, sogar eine Blaskapelle spielt auf. Das grelle Spektakel, das Unternehmen nennt es "Phygital-Erlebnis", soll während der durchgetakteten Fashion Week als Ansage verstanden werden.

Anzughersteller

Jetzt steht in einem Zelt hinter dem Stadion die Cheerleader-Truppe, die vorhin noch auf dem Feld die Stimmung angeheizt hat, für Bananen und Weckerln an. Wenige Meter entfernt sitzt Ingo Wilts, Chief Brand Officer und Markenvorstand bei Hugo Boss.

Er scheint zufrieden, das Event war ja irgendwie auch seine Idee. Der gebürtige Ostfriese muss neue Kunden und Kundinnen für den Metzinger Hersteller gewinnen. Das liegt an diesem Nachmittag in Mailand nicht nur auf der Hand, das räumt der Deutsche auch unumwunden ein.

Lange galt das Modeunternehmen als Anzughersteller, die Kundschaft: Männer, die ohne Schlips und Kragen ihrem Job nicht nachgehen können, so manche Frau, die Hosenzüge und Blazer mag. Fünf Jahre lang entwarf der US-Designer Jason Wu in New York Kollektionen für Boss, 2018 lief der Vertrag aus, Wilts hatte andere Pläne.

Andere Pläne

Wie die aussehen, lässt sich im September in Mailand beobachten. Auf den Zuschauerrängen vor allem Influencer und digitale Meinungsmacher, die sich auf den Rängen mit bunten Popkornschachteln in den Händen fotografieren. Wer hier über 30 ist, fällt auf.

Auch die Mode von Boss sieht weniger formell aus. Es laufen Collegejacken, Hoodies, Baseballkappen durch das Stadion. Das Unternehmen unterzieht sich einer straffen Verjüngungskur. "Das Bild vom Boss-Mann im Anzug wollen wir brechen, ganz klar", erklärt Ingo Wilts.

Anzüge werde es aber weiterhin geben, den klassischen Kunden vor den Kopf zu stoßen, kann man sich natürlich nicht leisten. Zugleich richtet man sich mit Sportswear-Kooperationen an die Generation Z, die unter 25-Jährigen: "Die interessiert nicht mehr der normale Anzug, die sind in eine andere Welt hineingeboren", sagt Wilts, Jahrgang 1965.

Wenn es nach ihm geht, besteht ein Zweiteiler heute aus "Drawstringhose, Bomberjacke, komfortablem Stretchmaterial". Wie zum Beweis sitzt der großgewachsene Deutsche selbst in einer Hose mit Kordelzug da. "Die Herausforderung war, alles softer und ohne Schulterpolster zu machen", meint er und greift sich erklärend an die rechte Schulter. Casual Wear ist seit Beginn der Pandemie wichtiger geworden: Das Homeoffice hat an Relevanz gewonnen, Business-Flüge wurden gestrichen, die Geschäftswelt hat sich verändert – und mit ihr die Mode.

Leichtathletin Alicia Schmidt
Foto: Nick Zonna / IPA via www.imago-images.de

Das Rennen um die Jungen

Die Umwälzungen bei Boss enden aber nicht bei den legeren Schnitten. Im Gegensatz zu den italienischen Häusern, die in Mailand ihre Entwürfe für das Frühjahr 2022 zeigen, verfolgt Hugo Boss das Prinzip "See now buy now": Die 60 Looks, die die Models Gigi Hadid, Irina Shayik, Joan Smalls und Adut Akech federnden Schrittes vorgeführt haben, sind in der Sekunde online erhältlich.

Die junge Zielgruppe, die ständig am Smartphone klebt, ist bekanntlich ungeduldig. Bestätigt wurde das Unternehmen in seiner Strategie von einer 26-jährigen Influencerin. Im Herbst 2020 entwickelte Caro Daur mit Boss eine 15-teilige Kollektion, um junge Frauen anzusprechen, an weiblichen Kundinnen mangelt es der Marke. "Von ihr haben wir gelernt, dass wir schneller sein müssen. Was wir zeigen, muss sofort verkaufbar sein."

Ingo Wilts, Chief Brand Officer und Markenvorstand bei Hugo Boss
Foto: Hugo Boss

Das Rennen um die Jungen hat in der Modewelt nicht erst gestern begonnen. Aber dass der Jugendwahn grassiert, wird in Mailand während der ersten physischen Modewoche seit Beginn der Pandemie deutlich.

Nackte Rücken

Sogar Häuser wie Max Mara oder Missoni, Experten für Mäntel und Strickware, zeigen auf den Laufstegen so offensiv nackte Rücken und blanke Bäuche, als habe man sich vor den sexy Selbstinszenierungen der körperbewussten Generation Z in den Social-Media-Netzwerken anstecken lassen.

Viele Modehäuser haben den direkten Schulterschluss mit den Jungen längst auf andere Weise gesucht: Kreativchefs wie Virgil Abloh (seit 2018 bei Louis Vuitton) oder Matthew Williams (Givenchy) sollen die Streetwear-gläubige junge Kundschaft an die teuren Luxusmarken heranführen.


Ein Model in Mailand mit einem Entwurf für Missonis Sommerkollektion 2022.
Foto: BERTORELLO / AFP

Die Überlegung: Wer gestern Fan von Been Trill war, dem von Matthew Williams, Virgil Abloh, Heron Preston, Justin Saunders und YWP gegründeten DJ-Kollektiv und Streetwear-Label, kauft jetzt bei Louis Vuitton oder Givenchy ein.

Ingo Wilts hingegen wurde von einem anderen beeinflusst. Bevor er in den Vorstand von Boss wechselte, arbeitete er unter anderem für den amerikanischen Modeunternehmer Tommy Hilfiger. "Wie man mit Social Media umgeht", habe er von dem Designer gelernt, erklärt er. "Da war Tommy Hilfiger ein Vorreiter."

Und schon spricht der Ostfriese wieder über sein aktuelles Lieblingsthema, digitales Marketing und die Relevanz von Instagram und Tiktok. Nicht ohne hinterherzuschieben, dass Tommy Hilfiger ihm auch gezeigt habe, "die Dinge entspannter zu sehen". Sagt’s und läuft zum nächsten Termin. (Anne Feldkamp, RONDO, 28.10.2021)